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  • Landesamt für Einwanderung

Stau in der Einwanderungsbehörde

Organisationen beklagen Zusammenbruch des Antragssystems und ernste Folgen für Betroffene

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ich habe immer und immer wieder angerufen und niemanden erreicht«, berichtete Karim Aziz (Name von der Redaktion geändert) schon vor Wochen dem »nd«. Bei seinem Versuch, online einen Termin beim Landesamt für Einwanderung (Lea), zu buchen, um seinen Aufenthalt zu verlängern, erhält er ein Angebot für den Oktober - zu diesem Zeitpunkt wird sein Aufenthalt bereits fast ein halbes Jahr abgelaufen sein. Aziz steht mit diesen Schwierigkeiten mit diesem Amt - vor der Umbenennung im vergangenen Jahr hieß es Ausländerbehörde - nicht alleine da. Bei einer Testabfrage des »nd« heißt es bloß: »Für die gewählte Dienstleistung sind aktuell keine Termine frei! Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.«

Ein Bündnis aus elf Hilfsorganisationen, darunter der Flüchtlingsrat Berlin und das Diakonische Werk Berlin-Stadtmitte, wendet sich nun an die Öffentlichkeit an und wirft dem Amt vor, es sei »zusammengebrochen«. Die fristgerechte Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln und Arbeitserlaubnissen seien nicht mehr möglich.

Den Sprecher des Flüchtlingsrats, Georg Classen, erinnert der Zustand der Behörde an das Chaos beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) im Winter 2015/2016. Damals standen verzweifelte Antragssteller*innen zu Hunderten über Nacht vor dem Lageso. »Das Lea-Chaos ist dabei nur weniger sichtbar, da der Zutritt zur Behörde nur mit gebuchtem Termin möglich ist«, so Classen. Die Menschen stehen nun nicht verzweifelt vor der Behörde, sondern sitzen verzweifelt vor ihren Bildschirmen.

Das Bündnis der Hilfsorganisationen fordert eine sofortige personelle Umstrukturierung der Behörde - und einen Corona-Abschiebestopp. Denn Rückführungen würden - im Gegensatz zur Kundenbetreuung - weiterhin »reibungslos funktionieren,« heißt es in der Mitteilung der Vereine.

Zu diesem konkreten Vorwurf äußert sich die Behörde auf Nachfragen des »nd« nicht. Ein Sprecher erklärt: »Das Lea war und ist durchgehend geöffnet und für Antragstellende und Ratsuchende erreichbar.« Pro Monat bediene man mehr als 20 000 Vorsprechende mit einem Termin ohne Wartezeiten und damit auch nur geringen Gesundheitsrisiken hinsichtlich einer Ansteckung mit Covid-19. Die Anzahl der Vorsprechenden entspreche ungefähr 60 Prozent der durchschnittlichen Besucher*innen vor der Pandemie. Die Zahl der erteilten Aufenthaltstitel habe man mit 42 758 im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahr sogar steigern können.

Man weiß um die Schwierigkeiten mit dem Online-Buchungssystem. Eine Verspätung sei jedoch im »Regelfall unschädlich«, heißt es. Die Behörde verweist auf eine Telefonhotline für eilbedürftige Vorgänge, auf das Beratungszentrum sowie auf den unabhängigen Ombudsmann, den einstigen Justizsenator Wolfgang Wieland (Grüne).

Doch einen Fall »eilbedürftig« werden zu lassen, ist für die Betroffenen mit viel Stress verbunden. Ein junger Mann aus Nigeria versucht seit drei Monaten an drei bis sechs Tagen pro Woche mehrmals täglich, einen Termin zu vereinbaren, um seinen Aufenthaltstitel zu verlängern, der im August abläuft - ohne Erfolg. Der Supermarkt, bei dem er in Vollzeit arbeitet, um für seine beiden Kinder zu sorgen, fragt nun regelmäßig nach, wann mit einer Verlängerung gerechnet werden kann. Denn der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Arbeitserlaubnis seiner Beschäftigten zu prüfen.

Terminbuchungen und formlose Bescheinigungen des Lea würden nicht von allen Arbeitgeber*innen akzeptiert, so Martina Mauer vom Berliner Flüchtlingsrat. Das sei verständlich, denn diese Bescheinigungen genügten nicht den ausländerrechtlichen Anforderungen an Aufenthaltsdokumente und seien zudem leicht zu fälschen, erklärt sie.

Katina Schubert, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus sieht die Verantwortung nun bei Andreas Geisel (SPD): »Ich erwarte vom Innensenator, dass er schnell für Abhilfe sorgt und gegenüber Arbeitgeberverbänden signalisiert, dass die Behelfsbescheinigungen anzuerkennen sind. Es darf niemandem ein Nachteil daraus entstehen, dass das Lea nicht ausreichend arbeitsfähig ist«, sagt sie dem »nd«. Die Innenverwaltung hat sich zu den Vorwürfen an das Lea bis zum Redaktionsschluss dieser Zeitung nicht geäußert.

Nicht nur bei Arbeit hat ein fehlendes legales Aufenthaltsdokument Konsequenzen. »Die Menschen können keine Wohnung mieten und kein Konto eröffnen. Sozialleistungen und Kindergeld werden gestoppt. Bei Kontrollen kann es zu Problemen kommen, Reisen ins Ausland sind nicht möglich«, heißt es seitens des Flüchtlingsrates.

Martina Mauer erklärt, dass in dem Moment, wo eine Beratung eingeschaltet ist, das Problem meist irgendwie geregelt werden kann. Aber: »Sorgen machen wir uns um die, die nicht in einen Beratungskontext eingebunden sind.« Für die Beratungsstellen stellt die Situation eine enorme Belastung da. Allein die terminlichen Schwierigkeiten nehmen über die Maßen Zeit in Anspruch, die für anderes dann fehlt. »Sie sagen: ›Wir kommen zu gar nichts mehr‹«, so Mauer.

Auch Karim Aziz findet erst mit Unterstützung die E-Mail-Adresse, an die er sich wenden muss - um dann auf diesem Weg einen Termin Ende September zugeteilt zu bekommen. Für den 21-Jährigen, der eine Ausbildung zum Heizungsinstallateur absolviert, drängt die Verlängerung aus verschiedenen Gründen. Vor allem benötigt der junge Afghane aber einen Wohnberechtigungsschein, den man in Berlin nur mit einem noch elf Monate gültigen Aufenthaltstitel beantragen kann. Er befürchtet, dass er nicht rechtzeitig in der Lage ist, sich eine Wohnung zu suchen, die er auch bezahlen kann, wenn er sein befristetes Wohnverhältnis verlassen muss.

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