Kulturevents in der Polizeistation

Nach dem Generalstreik in Kolumbien haben militante Protestierende mehrere Polizeistationen für sich eingenommen

  • Gabriel Engelbart
  • Lesedauer: 6 Min.

Claudia - Aktivistin in der neuen Bibliothek

Am 28. April, als ein Generalstreik gegen eine Steuerreform der Regierung das Land lahmlegte, vertrieb eine Gruppe Vermummter die Polizist*innen aus einer kleinen Wache am Loma de la Cruz in Cali. Sie schlugen die Scheiben ein und verschafften sich so Zugang. Viel gab es nicht zu plündern, die Polizist*innen hatten die Station zuvor bereits selbst leer geräumt. Die Wache war nicht die einzige, die im Laufe der Proteste geplündert wurde. Andere wurden sogar niedergebrannt.

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Mit der Polizeistation am Loma de la Cruz hatten Aktivist*innen etwas anderes vor: eine Bibliothek. »Sie sollen nicht umsonst gestorben sein«, steht zehn Tage nach der Aneignung auf einem Schild an der Bibliothek. Es erinnert an die landesweit über 40 Todesopfer durch Polizeigewalt. »Unsere Waffe ist das Wort und die Kultur, nicht die Gewalt«, sagt Claudia. Sie organisiert mit einem Team von Freiwilligen die Bibliothek. Täglich kommen Nachbar*innen vorbei und reden, tauschen und schenken Bücher, es gibt Malutensilien für Kinder, einmal am Tag treten Clowns, Jongleure oder Geschichtenerzähler*innen auf, Poesielesungen und Tanzabende werden veranstaltet und jeden Nachmittag ein offenes Treffen. »Die bisher vielleicht wichtigste Erfahrung besteht in solchen neuen solidarischen Räumen«, glaubt Claudia. Für Aktivist*innen wie sie dient Kultur nicht nur der Illustration oder Unterhaltung während des Protests. Vielmehr ist auch sie direkter Ausdruck des Widerstands. Der Kultursektor ist von der Pandemie besonders stark betroffen und hatte schon vor dem Streik gegen die Haushaltskürzungen demonstriert. »500 Jahre Unterdrückung sind genug, es wird Zeit für eine radikale Veränderung«, gibt sich Claudia kämpferisch. Deshalb ist es für sie wichtig, sich kulturelle Ausdrucksformen indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften wieder anzueignen.

Alejandro - Blockadepunkt Puerto Resistencia

Alejandro hat sich mit einem Tuch komplett vermummt, auf dem Kopf trägt er einen Bauhelm. Nur seine braunen, glänzenden Augen sind zu erkennen. Wegen der Polizeirepression wollen die Aktivist*innen der ersten Reihe anonym bleiben. Sie sind die Militanten, die sich der Polizei entgegenstellen und auch riskieren, getötet zu werden. Alejandro sitzt auf einer orangenen Bauabsperrung und ist sichtlich entspannt. Im Moment ist es ruhig an der Blockade Puerto Resistencia (dt.: Hafen des Widerstands). Das ändert sich allerdings bei Dunkelheit, wenn viele Protestierende aus Angst nach Hause gehen. Dann bleibt der harte Kern der ersten Reihe und verteidigt die riesige Straßenkreuzung. Trotz der Gefahren und der vielen Toten harrt er weiter in der ersten Reihe aus, erklärt Alejandro, weil er die Ungerechtigkeit im Land satt habe. »Ich habe mich vermummt, weil ich auf Seiten des Volkes gegen die Pläne der korrupten Regierung kämpfe, das Land weiter in Armut zu stürzen. Ich werde weder die Steuerreform noch die weitere Privatisierung der Gesundheitsversorgung zulassen.« Alejandro ist selbstständiger Kfz-Mechaniker. Als Schüler wollte er noch Polizist werden.

»Das Militär wurde eigentlich dazu geschaffen, die Landesgrenzen zu schützen. Stattdessen schießen sie jetzt auf uns, genauso wie die Polizei. Aber wir kämpfen weiter, meine Herrschaften«, kündigt Alejandro an. »Wir sind in der ersten Reihe, weil wir der Polizei direkt gegenübertreten, eins gegen eins.« Die einzigen Mittel der Verteidigung seien Schutzschilder und Steine. Viele Jugendliche hätten gemerkt, dass Widerstand trotzdem möglich ist und sich deshalb der ersten Reihe angeschlossen. Gleichwohl sei ein Sicherheitscheck wichtig, weil die Polizei Zivilpolizist*innen und Spitzel schicke.

»Die Stadtverwaltung und die Oberschicht wirft uns vor, dass wir Vandalen seien und Geschäfte plündern. Aber schau dich um, hier wurde von den Vermummten kein einziges Geschäft geplündert – weil wir es schlichtweg verbieten.« Aus diesem Grund genießt die erste Reihe in der Gegend einen guten Ruf. Menschen aus den umliegenden Vierteln versorgen sie mit Wasser, Kaffee, Brot und bringen Essen vorbei. Neben Alejandro steht eine Frau, die ihm eine Styroporschale reicht. »Heb sie mir auf, damit ich später in der Nacht zu essen habe«, bittet er sie freundlich. Die selbst gebauten Schutzschilder bestehen aus aufgeschnittenen Blechtonnen und Satellitenschüsseln. »Sie wurden von einem Geschäft in der Nähe gespendet«, so Alejandro.

Ob er manchmal Angst um sein Leben habe? »Angst ist immer präsent, denn sie ermorden uns auf feige Weise. Die Regierung fürchtet uns, weil sie weiß, dass wir in der Überzahl sind. Deshalb will sie einen nach dem anderen umbringen. Ich vertraue in Gott. Wenn wir heute sterben, werden morgen umso mehr folgen.«

Duván - Blockadepunkt am Kreisverkehr in Siloé

Im Hintergrund läuft Hip-Hop. Gefällte Bäume versperren die Durchfahrt zum Kreisverkehr. Der Blockadepunkt in Siloé wurde mehrere Tage beschossen und schließlich geräumt. Nun sind Duván und seine Kombo wieder auf der Straße und machen trotz Rücknahme des Reformpakets durch die Regierung weiter. »Die korrupten Politiker haben uns alles genommen, sogar die Angst. Jetzt fehlt nur noch, dass sie uns das Leben nehmen«, sagt Duván. »Alter, ich habe so die Schnauze voll von dieser Regierung. Immer wenn ich im Viertel auf die Straße gehe und einen Bullen sehe, muss ich mich verstecken, weil sie mich einknasten wollen. Sie nutzen ihre Macht aus.« Während der Proteste hätten Polizisten aus Zivilautos auf sie geschossen. Er bittet darum, dass die internationalen Medien das ans Licht bringen und helfen.

Duván hatte keine leichte Kindheit. Seine Eltern haben ihn früh verlassen. Er kämpfe trotzdem für sie. Sie sind jetzt alt und haben ihr Leben lang geschuftet, ohne eine Rente zu bekommen. Er kenne sich mit Elektrik aus, aber könne seine Kenntnisse nicht voll zur Entfaltung bringen. Er würde gern Elektroingenieurwesen studieren, doch dafür fehlt ihm das Abiturzeugnis. Duván musste schon als Kind arbeiten, um sich selbst zu versorgen. Für Schule war da keine Zeit. Das sei das Los der Armen in diesem Land.

Duván protestiert für das Recht auf Bildung und Gesundheit für ihn und seine Kinder. In Siloé hingen viele Jugendliche auf der Straße herum und nähmen Drogen, weil sie keine Perspektive hätten. »Viele Leuten meinen, wir wüssten nicht, warum wir in der ersten Reihe stehen. Denen antworte ich: Ihr irrt euch, Freunde. Ich will, dass wir studieren können. Dass wir Mechanik, Informatik oder Englisch lernen«, sagt er. Nur so könne vermieden werden, dass die Jugendlichen in Bandenstrukturen landen.

Und noch was: »Ich kämpfe auch für die Leute, die auf der Straße leben. Denn wir alle vergessen sie in der Regel. Sie verdienen eine bessere Behandlung. Wir müssen sie aus dieser Misere rausholen«, fügt Duván hinzu.

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