Existenzminimum als verhandelbare Größe

Bei Geflüchteten kürzen die Behörden mit abenteuerlicher Begründung an den Sozialleistungen

Ende 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht einen großen Teil der als Strafe verhängten Kürzungen am Hartz-IV-Regelsatz für rechtswidrig erklärt. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) passte daraufhin die Regularien zu den Sanktionen gegen Erwerbslose an. Seither gilt, dass es keine Regelsatzkürzungen von mehr als 30 Prozent mehr geben darf. Dagegen wird bei Asylsuchenden weiter gespart, und zwar auf verfassungsrechtlich fragwürdigste Weise.

So werden nicht miteinander verwandte Menschen, die in Sammelunterkünften leben, seit September 2019 pauschal Ehepaare behandelt und bekommen dadurch weniger Sozialhilfe. Es wird ihnen somit faktisch vorgeschrieben, dass sie »aus einem Topf« zu wirtschaften haben, also zusammen einkaufen und kochen, Sport- und Spielgeräte, Bücher und Filme teilen sollen. Diese Personengruppe bilde »der Sache nach eine Schicksalsgemeinschaft«, begründete die Große Koalition diese Leistungskürzung.

Das, schreiben Sarah Lincoln und David Werdermann im Grundrechtereport, sei »schon ohne Corona völlig an der Realität in den Unterkünften« vorbeigegangen. Seit Beginn der Pandemie verbiete sich gemeinsames Wirtschaften schon aus Gründen des Infektionsschutzes vollends. Eine »nachvollziehbare und sachlich differenzierte Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums«, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gefordert habe, »sieht anders aus«, schreiben die Autoren.

Lincoln und Werdermann erinnern an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, in dem die Karlsruher Richter mit Blick auf das Asylbewerberleistungsgesetz betonten, niedrigere Leistungen für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe wie Geflüchtete seien nur verfassungskonform, wenn sich ein geringerer Bedarf plausibel begründen lässt. Diesen Grundsatz sehen etliche Sozialgerichte in Bezug auf die an Menschen in Sammelunterkünften gezahlten Beträge als verletzt an.

Seit September 2019 erhalten Alleinstehende in Sammelunterkünften Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 und damit um zehn Prozent weniger als vorher. 2020 standen ihnen 316 Euro monatlich zur Verfügung, in diesem Jahr sind es 323 Euro. Der Regelsatz für einen alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher betrug im vergangenen Jahr 432 Euro und stieg 2021 auf 446 Euro.

Vor dem September 2019 war die Bedarfsstufe 2 auch bei Geflüchteten nur bei Paarhaushalten zugrunde gelegt worden. Die bei Paaren zugrunde gelegte Annahme, dass sich durch das Zusammenleben Einspareffekte in Höhe von etwa zehn Prozent ergeben, übertrug die Regierungskoalition von CDU, CSU und SPD kurzerhand auf Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften.

Sozialgerichte sprachen 2020 nun mehreren Personen im Eilverfahren den Satz der Regelbedarfsstufe 1 zu. Sie verwiesen darauf, dass Bewohner einer Sammelunterkunft nicht freiwillig dort leben, sondern gesetzlich dazu verpflichtet sind. Ein »Näheverhältnis«, welches für eine gemeinsame Haushaltsführung erforderlich wäre, sei unter diesen Umständen kaum vorstellbar.

Lincoln und Werdermann verweisen darauf, dass darüber hinaus innerhalb einer Unterkunft die Sätze, die die Bewohner erhalten, sehr unterschiedlich sind, je nach Aufenthaltsdauer. Manche bekommen auch nur Geld für Lebensmittel, weil sie sich trotz Zuständigkeit eines anderen EU-Mitgliedsstaats in Deutschland aufhalten.

Nach Ansicht der Autoren, beide Juristen, haben die Sozialgerichte zudem nicht berücksichtigt, dass Bewohner einer Gemeinschafsunterkunft gar nicht die gleichen Einspareffekte erzielen können wie Eheleute. Denn das größte Potenzial liege dabei in größeren gemeinsamen Anschaffungen wie Inneneinrichtung und Hausrat, die aber gar nicht Teil des Regelsatzes für Geflüchtete sind. Solche Gegenstände werden in der Regel werden sie als Sachleistung von der Unterkunft gestellt.

Lincoln und Werdermann bezeichnen das Vorgehen der GroKo als »politischen Taschenspielertrick«. Der Staat spare durch die Einstufung in den Regelbedarf 2 jährlich 40 Millionen Euro. Das entspreche just der Summe, die der Bund dadurch mehr aufbringen muss, dass er, ebenfalls im September 2019, die Regelsätze für Asylbewerber nach jahrelanger Untätigkeit endlich an die gestiegenen Lebenshaltungskosten anpasste. »Um dieses Nullsummenspiel zu rechtfertigen, war sich der Gesetzgeber nicht zu schade, mit an den Haaren herbeigezogenen Begründungen das Existenzminimum zu unterlaufen«, kritisieren die Juristen. Und selbst, wenn ein Sozialgericht diese dem Bundesverfassungsgericht »zeitnah« zur Prüfung vorlege, könnten »noch Jahre vergehen«, in denen weiter zu wenig gezahlt werde.

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