Ironiker mit Abgründen

Immer wieder große Themen: Hermann Kants »Therapie«, herausgegeben von Irmtraud Gutschke

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Seine Eröffnungssätze sind legendär. »Abspann« (1991) hebt an: »Ich sei, hat meine Mutter dem Fernsehen erzählt, ihr regierbarstes Kind gewesen.« Das will man dann doch gleich genauer wissen - und liest weiter. In »Die Aula« (1965) leistet sich Hermann Kant sogar einen überaus barocken ersten Satz, der ein ganzes Selbstporträt als Autor ersetzt: »Da sitzt einer über seiner Schreibmaschine, raucht zuviel, bläst Staub von den Tasten, beißt in einen Apfel und denkt an Schiller dabei, starrt auf das leere Papier und dann auf die Uhr, kratzt an dem verklebten kleinen a herum, bis es wieder sauber ist, hat schon wieder eine Zigarette in Brand und nennt das ganze Arbeit.« Wir erfahren, Schreiben bedeute, auf Gedanken zu lauern. Das »Impressum« dagegen fängt bündig, fast schon salopp an: »Ich will aber nicht Minister werden!«

Und nun dieser eher schmale Band »Therapie«, mit späten Texten von Kant, von denen einige in dieser Zeitung erschienen, mitsamt einem ebenso ausführlichen wie erhellenden Gespräch mit Irmtraud Gutschke von 2014. Da war der Autor bereits achtundachtzig Jahre alt. Er starb 2016.

Der zentrale Text des Bandes, in dem die abgründig-hakenschlagende und Winkelzüge zelebrierende Erzählweise Kants, die um keine Abschweifung verlegen ist, noch einmal zur vollsten Blüte kommt, ist gewiss »Ein strenges Spiel«. Dieser erschien ebenfalls 2014 als Privatdruck. Schnell drucken, damit er das Resultat noch in Händen halten und seinen Freunden schicken konnte! Diese Vitalitätsdemonstration eines bereits Schwerkranken gelang - typisch für Kant - am Gegenstand einer lebensbedrohlichen Situation.

Der erste Satz hier: »Und dabei hätte ich schon so schön tot sein können.« Die folgenden zwanzig Seiten handeln von einer nächtlichen Rettungsaktion, die dem Autor in der Erinnerung höchst zwiespältig erschien. Kant, der nach der Wende die längste Zeit in einem Sommerbungalow (auch im Winter) im mecklenburgischen Prälank lebte, war, wie seinen Berliner Freunden nicht verborgen blieb, in schlechter Verfassung, schwach und fiebrig.

»Wenn du tief in der Nacht im Bett liegst, und zwar allein, und sicher bist, Tor und Tür sind verschlossen, dann weißt du, zur Zeit hat unter deinem Dach keiner was zu suchen, und du schläfst einen - im verhandelten Fall fiebrigen - Schlaf der Gerechten.« Dann aber dringen Fremde mit Lärm bei ihm ein, stehen vor seinem Bett, wollen ihn mitnehmen.

Es ist sein Berliner Arzt, der spätabends alarmiert worden war, mitsamt Polizei und Sanitätern. Sie kommen ihn zu retten! Kant, der, wie er erstaunt bemerkt, nicht vor Schreck sofort tot umgefallen ist, notiert im Nachhinein: »Mich hatte keiner zu retten.« Und beginnt eine Reise zwischen nüchternem Bericht aus dem Krankenhaus (Virusinfektion an der künstlichen Herzklappe) und Assoziationen, Beobachtungen und Reflexionen. Ein typischer Kant eben, der noch in der Situation des hilflos Ausgeliefertseins sich Stärke anschreibt. Wir lesen die erstaunlich gegenwärtig klingenden Sätze der Rebellion: »So wenig wie in Haft, wollte ich in eine Gesundungshaft.«

Das Gespräch mit der Herausgeberin Irmtraud Gutschke, der langjährigen Literaturredakteurin dieser Zeitung, ist ein fortgesetztes. Beide hatten schon in »Hermann Kant. Die Sache und die Sachen« gemeinsam Wahrheitssuche betrieben. Beim Schriftsteller Hermann Kant gar nicht einfach, denn einfache Wahrheiten gibt es für diesen nicht. Wer nicht willens ist, sich auch komplizierten Lebenswidersprüchen auszusetzen, braucht damit gar nicht erst anzufangen. Aber Irmtraud Gutschke will ohnehin keine einfachen Antworten, sie bietet stattdessen hilfreiche Begleitung an beim Durchwandern von Labyrinthen, ohne die die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht zu denken ist.

Kant folgt der Fragenden offensichtlich gern, denn sie öffnet auf einladende Art Türen in seine Biografie. Da mag er dann mitgehen, wenn auch nicht ohne eine gewisse kokette Lust an der Provokation. Seine Arbeit als Autor? »Einen Tischlermeister würde man mit 88 doch auch nicht fragen, woran er gerade arbeitet.« Er spricht dann doch über die Bürde des Alters für einen Autor. Warum sich nicht einfach auf die Gartenbank setzen und über den See schauen? Es gibt einen Drang und einen Zwang zu Schreiben. Arnold Zweigs letzte Arbeiten, so Kant, der sich selbst gegenüber wachsam blieb, seien nicht mehr überzeugend gewesen - und niemand wagte, es ihm zu sagen.

Es ist ein Exkurs über das Leben eines Menschen inmitten der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sein Vater war bis 1933 Orchideengärtner gewesen. Weil er sich weigerte, zur Entlassung eines kommunistischen Kollegen rituell Beifall zu klatschen, wurde er entlassen und musste als Straßenkehrer arbeiten. Kant selbst wurde Elektriker, kam als Soldat bei Kriegsende in polnische Gefangenschaft, wurde verdächtigt, ein Mörder zu sein - in »Der Aufenthalt« (1977), vielleicht seinem wichtigsten Buch, hat er darüber berichtet. Immer wieder große Themen, Jahrhundertthemen. Nach vier Jahren Gefangenschaft die Entlassung und die große Chance der Arbeiter- und Bauernfakultät, die ihm die DDR gab: »Dass die DDR die Tore aufgerissen hat für unsereins, war eine große sozialistische Tat.«

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Kant erweist sich auch hier wieder als Sprachfetischist, der weiß, präzise denken heißt, sich präzise ausdrücken. Da ist er dann sehr genau: »Gleichmut hat die meisten Proben hinter sich. Seine Steigerung heißt Unerschütterlichkeit.« Dass es sich hierbei um das Gegenteil von Gleichgültigkeit handelt, muss man es noch sagen? Eindringlich die Erinnerung an seine Schwester Isa, die schließlich als Kneipenwirtin in Hamburg lebte: »Sie lebte nicht im Elend; es ist nur ein elendes Leben gewesen. Jede Menge Träume, alle geplatzt.«

Und Kant selbst? Hat geschrieben fast bis zuletzt. Es lohnt sich, das heute zu lesen, auch als Selbst-Therapie. Denn auch wenn Träume platzen, in der Beschreibung des großen Ironikers Hermann Kant ist das alles andere als ein elendes Leben.

Hermann Kant: Therapie. Erzählungen und Essays, Hg. v. Irmtraud Gutschke, Aufbau Verlag, 160 S., geb., 22 €.

»Literatur ist ein anderes Wort für Ausweg«. Irmtraud Gutschke im Gespräch mit Olaf Koppe über Hermann Kants »Therapie«. Am nächsten Mittwoch, 2.6. um 18 Uhr im Livestream auf dasnd.de.

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