Worte wie Maschinenteile

»Ersatzteil für die Evolution«: Mit seinem neuen Gedichtband »Große Fuge« hinterfragt Volker Braun die andauernde Übergangszeit

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Seine Worte, zu Sätzen sich zusammenfindend, sind Bollwerke gegen die Zeit. Einer Zeit jedoch, aus der diese Dichtung wiederum selbst gemacht ist - aber als ihr intimer Widerpart. Volker Braun: Dialektiker auch im Gedicht.

Für Dialektiker war das vergangene Jahr ein denkbar - und fühlbar! - schlechtes. Davon kann man nun in »Große Fuge« lesen. Was ist passiert, während die Zeit scheinbar still stand? »Die Hände gewaschen und eine Handvoll Verse geschrieben.« Das klingt nach aseptischem Tun. Ist es aber nicht bei Braun, der immer das Material erst mit Händen greifen muss, um es auf seine Vergeistigungsmöglichkeit hin zu prüfen.

Der Titel des schmalen, großformatigen Bandes ruft dabei gleichsam nach musikalischem Beistand. Denn die Fuge ist per se mehrstimmig, etwas, woran es dem Einstimmigkeit einfordernden Corona-Sound der vergangenen Monate ganz offensichtlich mangelte. Bach schrieb »Die Kunst der Fuge« und Beethoven seine »Große Fuge«, ein Streichquartett, das er dem Erzherzog Rudolph widmete - bei dem diesem vermutlich die Ohren klangen und alle Gewissheiten durcheinanderfielen. Erst die Vielstimmigkeit gibt der Melodie ihre welteröffnende Kraft.

Nun scheinen der Autor wie der Leser nicht ganz frei von Melancholie. Denn es ist bald sechs Jahrzehnte her, dass Volker Braun beim Lyrik-Abend der Ostberliner Akademie der Künste im Herbst 1962 seinen ersten großen Auftritt hatte, wie auch Wolf Biermann, Sarah und Rainer Kirsch, B. K. Tragelehn und viele andere, die damals alle Anfang in ihren Zwanzigern waren. Stephan Hermlin hatte eingeladen und zelebrierte an diesem Abend die neue Kunst einer jungen Generation. Da war der Raum erfüllt von jener »Großen Fuge«, die mehrstimmig vor Erregung vibrierte, einem verheißenen Aufbruch entgegen. Braun war Maschinist in der Schwarzen Pumpe gewesen, gerade hatte er sein Philosophiestudium in Leipzig begonnen und so klang sein lyrisches Credo entschlossen wie ein Manifest: »Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate.« Was für Gedichte das sein sollen, sagte er auch: »Hochdruckventile im Rohrnetz der Sehnsüchte«.

Man befand sich in lustvoll-kämpferischer Erregung. Fragte im Publikum auch laut nach, was denn das »Neue Deutschland« so für Gedichte veröffentliche? Nicht die von heute, die den Widerspruch feiern, sondern widerspruchsfreie Worthülsen von gestern. Was den »ND«-Vertreter in der Veranstaltung auf den Plan rief, der laut protestierte, dies hier sei »eine gelenkte Diskussion gegen das ND«. Wütende Proteste nicht nur der Jungen, auch der alte Anarchist und Plakatkünstler John Heartfield rief, Schlagzeilenmacher aus Instinkt, dem Funktionärsjournalisten entgegen: »Hier ist nichts gelenkt, hier lenkt man für das ND!«

Damals hätte man glauben können, damit sei eine vitale Diskussion in Gang gekommen, die tatsächlich etwas in Bewegung versetze. Aber dann ging der so selbstbewusst-rauschvolle Abend vorbei und die Abstrafungsmaschine begann zu arbeiten. Drei Jahre später bekam Biermann Auftrittsverbot, Hermlin war als Sekretär der Sektion Dichtung der Akademie der Künste zurückgetreten worden - und Braun laborierte an seinem »Kipper Paul Bauch«, dem man feindliche Tendenzen und Verzerrung des Bildes vom Arbeiter unterstellte.

Es begannen statische Zeiten, die für Braun schließlich in seinen »Hinze-Kunze-Roman« mündeten, der Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik unter den Bedingungen einer ihren inneren Bewegungsimpuls einbüßenden DDR durchspielte: der Funktionär und sein Chauffeur. Man fährt, wenn überhaupt, nur noch im Kreis.

Und nun, Jahrzehnte später, nach über einem Jahr Lockdown? Braun, in strenger auf sich selbst gerichteter Observanz, konstatiert, schon lange nicht mehr geträumt zu haben - ein schlechtes Zeichen. Er habe »das Unterbewusstsein verloren, Genossen, kein Homeoffice im Schlaf, die gewohnte Schwarzarbeit«.

So ist der Traumschutt, das anrückende Personal aus fernen Tagen, das nachts gefährlich nahe kommt, erst einmal auf Distanz gehalten. Aber natürlich liest man das Vergangene immer mit, auch in »Nach unserer Zeit«, worin es heißt: »So sehe ich die Menschheit treiben / In ihrem Fahrzeug Nach ihrer Zeit / Totenstille Ein Geist an Bord«. Wer denkt da nicht unwillkürlich an die »Fähre zwischen Eiszeit und Kommune«, als die Braun Mitte der sechziger Jahre die gegenwärtige Lage des Sozialismus in der DDR beschrieb? Ein Übergangsphänomen, also hoffnungsvoll. Aber dem folgte verordneter Stillstand, ein traumloser Traum. Die Gespenster simulieren Bewegung. Das können sie, einem den Schlaf rauben.

Und so führt das Erwachen des Dichters Stift. Er schreibt in »Große Fuge« Protokolle eines Übergangs vom Unbewussten ins Bewusste. Auch das ist ein Kreislauf, wenn auch ein störanfälliger. »Katharrsis« heißt ein Gedicht über den ordnungssinnigen Ausnahmezustand des Lockdowns, in deren Rücken der Entbehrlichkeitsbefund mit spitzem Bleistift mitgeht: »Platzangst Flachatmung Katarrh im Kulturbetrieb, einmal / All dem (Unfug) Einhalt gebieten EIN JAHR OHNE KUNST / So kommt Ruhe ins Verfahren, ihr Dilettanten.«

Braun ist ein Autor, der Worte wie Maschinenteile immer dort einbaut, wo sie fehlen. Nur so kann man einen defekten Motor (vielleicht, so die Rest-Utopie) wieder zum Laufen bringen. Wie anders den Ruf »WELCOME IN THE KOM-POSTMODERNE« deuten denn als einen spielerischen Versuch, mit dem Neubeginn nach dem ultimativen Ende ernst zu machen? Alles eine Frage der nötigen Ersatzteile, der zum vollständigen Satz fehlenden Worte. Solange diese fehlen, muss man sie überbrücken - mit Improvisationskunst wie eh und je. Denn noch immer gilt: »Kommt uns nicht mit Fertigem!«

Und wer bewahrt uns vor der vollständigen Übernahme durch jene Technik, die wir einst schufen und die sich nun selbstständig perfektioniert - ohne uns, gegen uns? Vielleicht einer wie Volker Braun, der in seiner ebenso erschütternden wie erheiternden »Großen Fuge« mit den Bruchstellen im System rechnet und das Archaische mit dem Anarchischen kunstvoll verknüpft. Das ist etwas, wovor jeder »Kyborg« (so ein Gedichttitel) kapitulieren muss: »Ein Urmensch, Mähne, gebückter Gang such ich / Am Strand ein Ersatzteil für die Evolution / Angespült von einem Schiffbruch, ein Werkzeug / Für die Liebe, ein lebendiges Ding wie den Tod.«

Volker Braun: Große Fuge. Suhrkamp Verlag, 53 S., br., 16 €.

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