Erbsenzähler unter sich

Die Trainer in der Champions-League-Finalisten sind befreundete Nerds. Dennoch unterscheidet Thomas Tuchel und Pep Guardiola eine Menge

  • Sven Goldmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Ob sich Thomas Tuchel und Pep Guardiola noch auf ein Glas Port getroffen haben? Im Casa da Foz oder im Morro d’Amores, vielleicht auch in den Kellereien von Sandeman, Ferreira oder Calém. Schöne Ecken gibt es in Porto allerlei. Hauptsache, es findet sich ein Tisch in einem ruhigen Hinterzimmer mit reichlich Gläsern, Pfeffer- und Salzstreuern, auf dass die Herren ein Fußballspiel simulieren können.

Im interessantesten Fall jenes, an dem sie an diesem Samstag selbst entscheidend beteiligt sind. Das Champions-League-Finale zwischen dem FC Chelsea London und Manchester City im Estádio do Dragão zu Porto ist vordergründig das wichtigste, spektakulärste, teuerste Fußballspiel dieses Jahres, darüber hinaus auch das Duell zweier ganz besonderer Trainer.

Pep Guardiola und Thomas Tuchel verbindet seit Jahren eine Art Nerd-Komplizenschaft, womit wir auch schon bei den Gläsern, Pfeffer- und Salzstreuern wären. Diese Vorgeschichte spielt im Frühjahr 2015 in Schumanns Bar am Münchner Hofgarten. Tuchel gönnte sich nach seinem Abschied vom Bundesligisten FSV Mainz 05 gerade ein einjähriges Sabbatical und folgte einer Einladung des Kollegen Guardiola, der damals den FC Bayern trainierte. Die beiden machten, was zwei Fußballverrückte im besten Restaurant der Stadt eben so machen.

Sie funktionierten den Tisch kurzerhand zu einem virtuellen Fußballplatz um, mit Salz- und Pfefferstreuern als Verteidiger und Stürmer, dazu Gläsern für das Personal in der Etappe. Mit Begeisterung spielten die beiden Schlachten der Fußballgeschichte nach. Über Details schweigen sie sich bis heute zwar aus; Pep Guardiola wurde jedoch bald darauf beim Vorstand vorstellig und empfahl Thomas Tuchel wärmstens für den Fall, dass er selbst München einmal verlassen würde.

Daraus wurde bekanntlich nichts, weil Tuchel zu dem Zeitpunkt dann schon bei Borussia Dortmund im Wort stand. Der Kontakt zwischen beiden riss jedoch nie ab, bis sie sich zu Beginn dieses Jahres in der Premier League wiedersahen. Guardiola als bereits seit 2015 amtierender Maestro in Manchester, der den befreundeten Kollegen Tuchel aufs Herzlichste begrüßte bei dessen schwieriger, im Januar angetretener Mission in London: »Er ist ein außergewöhnlicher Trainer«, sprach Guardiola. »Ich bin sicher, dass er Erfolg haben wird. Ich bin froh, ihn in England zu sehen.«

Guardiola und Tuchel geben ein seltsames Paar ab. Hier der ewige Lordsiegelbewahrer des ästhetisch anspruchsvollen Fußballs mit einer Aura, die glauben lässt, seine Leute würden nur aus Liebe zum Spiel spielen und das Geld als angenehme Begleiterscheinung einsacken. Dort der mal als verbissen, mal als empathielos wahrgenommene Querkopf aus dem Schwäbischen, den noch kein Fan in sein Herz geschlossen hat. Der in Dortmund ein paar Tage nach dem Pokalsieg gefeuert wurde - und in Paris ein paar Monate nach dem Einzug ins Finale der Champions League. Proteste gegen die erzwungenen Abgänge hielten sich an der Basis jeweils in überschaubaren Grenzen.

An der taktischen Expertise des Trainers Thomas Tuchel zweifeln selbst die ärgsten Kritiker des Menschen Thomas Tuchel nicht. Er lebt für das Spiel und ordnet ihm alles unter, selbstverständlich auch seine persönlichen Sympathiewerte. Tuchel kann sein taktisches System während eines Spiels mehrfach ändern und hat noch jede Mannschaft in kürzester Zeit besser gemacht. Mit Dortmund wurde er zweimal Zweiter und einmal Pokalsieger, Paris führte hat er nach Jahren der internationalen Bedeutungslosigkeit endlich ins Endspiel der Königsklasse, und aus dem unter Frank Lampard in desaströser Unordnung daherkommenden FC Chelsea machte er in wenigen Wochen ein Spitzenteam.

Tuchel ist der erste Trainer, der mit zwei verschiedenen Mannschaften in aufeinanderfolgenden Spielzeiten das Finale erreicht hat. Es ist sein Verdienst, dass die zuvor ins Mittelmaß abgestürzten Blues in der Premier League zum zweitbesten Team der Rückrunde aufstiegen, wenn auch mit deutlichem Abstand hinter dem Manchester City Football Club seines Freundes Guardiola. Der stand auch schon zweimal im obersten europäischen Endspiel - und gewann immer. Wenn auch nicht mit City, sondern mit dem in der Blüte seiner Fußballkunst stehenden FC Barcelona. Es ist schon ein paar Jahre her.

Zur gemeinsamen Geschichte der Trainer Guardiola und Tuchel gehört, dass der sportliche Erfolg zwischen ihnen einseitig verteilt ist. Von sechs direkten Duellen hat Guardiola vier gewonnen und nur eins verloren. Letzteres war allerdings das erst ein paar Wochen zurückliegende Halbfinale im FA-Cup und das erste Wiedersehen der beiden seit Guardiolas Abschied aus der Bundesliga vor fünf Jahren. Chelseas Sieg vereitelte zudem Citys Ambitionen, in dieser Saison alle drei wichtigen Trophäen einzuheimsen.

Der Gewinn der Meisterschaft steht schon seit einer gefühlten Ewigkeit fest. Für traditionsbewusste Fans auf der Insel mag jener Triumph in der Premier League über allem stehen - die mit arabischen Petrodollars alimentierte Klubführung hat aber anderes im Sinn. Für die Scheichs von Manchester strahlt die Champions League viel kräftiger, also investierten sie viel Geld in den katalanischen Trainer und noch mehr in die Mannschaft, auf dass endlich auch der Henkelpott im Trophäenschrank der Citizens steht.

Diesem Vorhaben steht nun nur noch Tuchel im Weg. Doch der hat schnell angekündigt, dass er an diesem Samstag keineswegs ein lieber Freund zu sein gedenkt. Gleich nach dem Halbfinalsieg über Real Madrid ließ Thomas Tuchel verlauten, »dass wir nicht nach Istanbul fahren, um Zweiter zu werden«. Nun musste er gar nicht nach Istanbul. Die Uefa hat das Finale kurzfristig nach Porto verlegt, aus den für die europäische Fußball-Regierung üblichen obskuren Gründen.

Sie betreffen vor allem die quarantänefreie An- und Abreise des zahlreichen Uefa-Fußvolks. Daher kam es wohl auch nicht zu der gar nicht so fern liegenden Lösung, das Finale zweier englischer Mannschaften in England auszuspielen. Auf also nach Porto, knapp 2000 Kilometer weit in den Süden. Das passt gut zu dieser seltsamen Saison mit einem über ganz Europa verstreuten Wettbewerb, der wie selbstverständlich die Vision einer coronafreien Welt vorwegnahm.

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Das Porto im Mai 2021 mag deutschen Fußballfans wie ein Paradies vorkommen. 16 500 Zuschauer dürfen ins Stadion. Bars, Cafés und Weinkeller empfangen zudem ihre Kundschaft auch jenseits der auf die Straße gestellten Stühle. Könnte also wirklich sein, dass sich Pep Guardiola und Thomas Tuchel heimlich vor dem Spiel noch auf ein Glas Port getroffen haben.

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