»Alibi-Debatten brauchen wir nicht«

In der EU gibt es Raum für substanzielle Veränderungen. Daher muss die Linke in der EU-Zukunftskonferenz konkret Position beziehen

  • Gerry Woop, Helmut Scholz
  • Lesedauer: 8 Min.

Am 9. Mai, dem Europatag, begann die Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union. Nach einem langwierigen Prozess zur Aushandlung zu Mandat, Form und Arbeitsweise der Konferenz kann jetzt die eigentliche inhaltliche Arbeit beginnen. Bereits jetzt ist klar: Die Konferenz wird nur dann ein Erfolg, wenn die Diskussionsergebnisse ernst genommen werden. Alibi-Debatten brauchen wir nicht. Die Ergebnisse des einjährigen Diskussionsprozesses müssen verbindlich sein und in praktische Konsequenzen münden.

Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen seit der letzten großen, grundsätzlichen und EU-weiten Debatte zur Europäischen Union. Ein Konvent diskutierte einen Verfassungsvertrag. Die Begrifflichkeiten sollten einen deutlichen Schritt vertiefter Integration ermöglichen und zugleich die über den Binnenmarkt hinausgehenden Erfordernisse einer tatsächlichen Wirtschafts- und Währungsunion sichtbar machen. Strukturell wäre die Union ein politisches Gebilde besonderer Art geblieben - ein Zusammenschluss von Mitgliedstaaten mit hohem Verflechtungsgrad durch gemeinsame Institutionen, Regeln und Verfahren. Für reale Vergemeinschaftungen einer Wirtschaftspolitik, deren faktischer Rückwirkungen auf die innenpolitischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Mitgliedsländer, und damit eine mögliche Akzeptanz, gab es keinen politischen Willen. Der Verfassungsbegriff und die Grundrechtecharta sollten den Bürger*innen der Union ein deutliches Gefühl von Zugehörigkeit zur Union geben und dies durch ihre neu definierten formalen Rechte im Rahmen einer Verfassung stützen. Gleichwohl war der Verfassungsvertrag insoweit nur ein Symbol als er an der Grundstruktur der Union als Vertragswerk von Staaten nichts änderte. Folgerichtig lehnte die Linke in Europa einen solchen »Verfassungsansatz« mit der Kritik an der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und der offenen Festschreibung nicht eingehegter »freier« marktwirtschaftlicher Ausrichtung ab.

Autoren

Gerry Woop (oben) ist Staatssekretär für Europa in der Senatsverwaltung für Kultur und Europa in Berlin. Helmut Scholz ist Europaabgeordneter der Linkspartei und Mitglied im Lenkungsgremium der EU-Zukunftskonferenz. Der ungekürzte Beitrag findet sich auf der Europaplattform www.die-zukunft.eu.

Großer Erwartungsdruck

Vor diesem historischen Bogen stellt sich heute die Frage auch an die Linke in Deutschland und in der EU, wie sie sich an einer breiten europapolitischen Debatte beteiligen wird und welchen Beitrag sie zum Gelingen einer solchen Konferenz zur Zukunft Europas leisten kann. Der Erwartungsdruck der unterschiedlichen politischen und institutionellen Akteure ist immens groß: Das zeigt schon der lange Aushandlungszeitraum zu Mandat, Form und Arbeitsweise der Konferenz zwischen Rat, Parlament und Kommission. Denn es soll erstmalig ein gemeinschaftliches Unterfangen der drei zentralen institutionellen Pfeiler der EU sein - und darüber hinaus soll diese Konferenz die Verschränkung von repräsentativer und partizipativer Demokratie vornehmen. Allerdings: Zu große Hoffnungen auf Änderungen am Institutionengefüge oder nennenswerte Integrationsschritte sind fehl am Platze, denn die Gemeinsame Erklärung von Rat, Kommission und Parlament zeigt bereits die markierten Begrenzungen. Bis kurz vor Start der Konferenz machten viele Mitgliedstaaten deutlich: Vertragsänderungen sind im Kern nicht gewünscht.

Linke Ausgangspunkte

Hier sollen keine linken Grundsatzdebatten ausgeführt werden zur generellen Haltung zur EU. Grundlage der Betrachtung ist der faktisch mit den Verträgen über die EU gegebene Rahmen und die in allen Bereichen vorangetriebene Politik der EU, zu denen konstruktiv Bezug genommen wird. Es geht um linke Politikimpulse, die zugleich auf eine Veränderung der Europäischen Union und auf eine vertiefte Integration hinzielen.

Für Die Linke waren die zentralen Auseinandersetzungspunkte der letzten Dekaden die gemeinsame Währung in ihren politischen und strukturellen Konsequenzen, die sozialen Defizite infolge von Dumpingwettbewerb, die neoliberale Wirtschaftspolitik sowie die Struktur- und Regionalpolitik und die gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik - alles im Zusammenhang stehende Politikbereiche - und schließlich die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Letztere kann hier nicht vertieft werden, wenngleich sie Gegenstand aktueller Schwerpunkte der Ratspräsidentschaften und der Kommission unter der Überschrift Europas Platz in der Welt ist. Und zweifellos wird diese Politikebene enormen Stellenwert gerade hinsichtlich der außenwirtschaftlichen Aufstellung der EU und ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit erlangen; dies im Bewusstsein der aus Sicht der Kapitallogik zwingend notwendigen Verlängerung der Binnenmarktes in die globale Dimension, der Eigenpositionierung einer Industriepolitik 4.0 im digitalen Zeitalter und der notwendigen tiefgreifenden wirtschaftlichen Umstrukturierungen angesichts von Klimawandel und Zero-Emission-Programmen. Noch scheint es vor allem ein spezielles und vor allem Spezialistenthema zu bleiben, während in anderen Politikfeldern wie der sozialen Dimension oder der Gesundheitsunion intensive und vertiefte Diskussionen zu erwarten sind. Für die LINKE waren in den vergangenen Jahren auch die Aspekte der Migrationspolitik oder besser des Versagens der EU auf diesem Gebiet, ein zentrales Thema, das einer Lösung harrt.

Unbedingt hervorgehoben werden muss das Engagement für ein soziales Europa, dass die linke Europapolitik seit jeher prägt. Wie sind angesichts des notwendigen wirtschaftlich-ökologischen Umbaus die sozialen Herausforderungen konkret im gemeinschaftlichen Diskurs und Strukturverständnis einer EU zu beantworten, welche Antworten sind die Mitgliedstaaten angesichts der engen volkswirtschaftlichen Verflechtungen im Binnenmarkt in Bezug auf gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme durch die EU für ein soziales Europa bereit zu geben. Mit der Sozialcharta und den Beschlüssen des Sozialgipfels von Göteborg und den darauf folgenden Prozessen zur Gestaltung und Untersetzung der sozialen Dimension ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, zu dem linke Europapolitiker*innen aus verschiedenen Positionen - parlamentarisch, außerparlamentarisch, wissenschaftlich, aus der Exekutive heraus, auf Ebene der Länder, des Bundes und europäisch - aktiv waren. Das reicht aber bei weitem nicht mehr - wie der konkrete Erlebnisstand vieler Menschen vor Ort heute zeigt.

Es gab jedenfalls Raum für erfolgreichere linke Politik und substanzielle Veränderungen in der EU. Wenn mit der Konferenz zur Zukunft Europas Debatten in großer Breite zu zahlreichen inhaltlichen Schwerpunkten Debatten geführt werden, entsteht ein wichtiges Zeitfenster besonderer politischer und öffentlicher Aufmerksamkeit für europäische Politik. Ein Zeitfenster das es zu nutzen gilt: »The Future in your hands - Die Zukunft ist in Eurer Hand« - so allgemein, so richtig sollte gerade die Linke die Konferenz nutzen. Denn hier können und sollten linke Politikinhalte eingebracht werden.

Eine neue Situation

Mit der weltweiten Covid-19-Pandemie wurde die EU 2020 vor eine völlig neue Situation gestellt. Auf einmal musste sie ihre koordinierende und unterstützende Rolle für die Mitgliedsstaaten in wirtschaftlichen, gesundheitspolitischen und Mobilitätsfragen sowie als globaler Akteur gegenüber den Mitgliedstaaten mit ihren auf nationaler Ebene verbliebenen Kompetenzen neu formulieren und durchsetzen. Nach anfänglichen Friktionen gelang es, mit Marktmacht Impfbestellungen für die Mitgliedstaaten zu gewährleisten und diese solidarisch aufzuteilen. Die außerordentliche und am Ende erfolgreiche Beschleunigung von Forschungsaktivitäten wurde unterstützt. Für den Binnenmarkt wurden Regeln angepasst und vor allem wurde ein Wiederaufbauprogram entworfen, dass einzigartig ist in der EU-Geschichte. In kürzester Zeit wurde ein Programm mit 750 Milliarden Euro aufgesetzt, um auf die Pandemie und ihre Folgen zu reagieren. Diese auch im Vergleich zum daneben laufenden Finanzrahmen immense Summe wird teilweise in Zuschüssen ausgezahlt und soll auf der Finanzierungsseite über erstmals durch die EU aufgenommene Kredite finanziert werden. Dieses neue Finanzierungsinstrument ist nicht nur ein erstaunlicher Schritt und war so vor der Pandemie undenkbar oder zumindest unrealisierbar angesichts der Ratifizierungsnotwendigkeiten in allen Mitgliedsstaaten. Mehr noch ist die gemeinsame Übernahme von entstehenden Lasten als Gemeinschaftsaufgabe ein sehr kleiner aber umso wichtiger, erster Schritt hin zu einem Paradigmenwechsel, der mit der parallelen Einigung auf die Einführung von Eigenmitteln für den EU-Haushalt neue Grundlagen für eigenständige Wirtschafts- und Haushaltspolitik der EU für Zukunft schaffen könnte. Technologisch zeigten sich in den vergangenen Jahren die Digitalisierungsprozesse als wichtige Elemente der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung - sei es im Dienstleistungsbereich, in der Industrie oder in der Forschung bis hin zu den damit verbundenen Fragen der Datensicherheit und des Datenschutzes.

Als letztes Moment der Rahmenbedingungen zur gegenwärtigen Lage der EU ist die spannungsreiche Diskussion um Rechtsstaatlichkeit zu nennen. Die innenpolitischen Entwicklungen in Polen oder Ungarn, dort konzeptionell noch aufgeladen mit dem Begriff der illiberalen Demokratie, faktisch Einschränkungen von Meinungsfreiheit und die Infragestellung und teilweise Verletzung von Grundmechanismen rechtsstaatlicher Grundsätze, all das zehrt an der politischen und Werte-Substanz der Europäischen Union.

Möglichkeiten der Konferenzdiskussion

Die Darstellung der Rahmenbedingungen sollte sichtbar machen, dass es nicht um ein bloßes Wiederaufnehmen alter Integrationsdebatten geht. Es sind spezifische Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen und konkrete Hürden dabei zu überwinden. Die Europäische Union muss gerade nach dem Verlust eines starken - wenngleich oft auch schwierigen - Mitglieds ihren Wert für die 27 Mitgliedsstaaten und all die in ihnen lebenden Menschen beweisen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sich Mehrheiten allgemein eine Sozialunion wünschen; dass die Migration gemeinsam und solidarisch gestaltet werden muss, liegt auf der Hand und dass dies auch von der EU zu Recht erwartet wird. Die Erwartung, dass die EU resilienter wird für externe Schocks und Notfälle wie Pandemien, dass gemeinsam in einer Gesundheitsunion geforscht und gemeinsam wie solidarisch gehandelt wird, ist ebenso offenkundig. Auch wirtschaftlich ist verstärkte Kooperation notwendig und nicht zuletzt gilt es, den globalen Herausforderungen auch gemeinsame Lösungen gegenüberzustellen. Insofern bieten die auf dem Tisch liegenden Rahmenbedingungen, die Herausforderungen, die konkreten politischen Themen den Stoff für die Diskussion zur Zukunft der Europäischen Union. Mit der Konferenz wird ein breiter Partizipationsprozess angestoßen, den es aktiv und konkret zu untersetzen und vor Ort sehr praktisch auszugestalten gilt.

Es geht also nicht darum, nur Licht und Schatten festzustellen, sondern die Schatten sollten als Erfordernis politischen Agierens gesehen und mit konkreten Vorschlägen bearbeitet werden. Die Aufmerksamkeit dafür ist da, das Interesse der Bürgeri*nnen und der Medien ebenso infolge des breit angelegten und mit einigem Aufwand organisierten Konferenzprozesses über alle Mitgliedstaaten und zahlreiche Institutionen hinweg.

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