Riesen-Einzeller
Biolumne
Groß wie Fußbälle werden einzellige Organismen mit dem Namen Xenophyophore, übersetzt etwa: Träger fremder Körper. Denn jede der Riesenzellen bildet ein Haus aus dem umgebenden Sedimentmaterial ihres Lebensraums, des Bodens der Tiefsee. Einige haben lange haarähnliche Filamente, um die besten Partikel für die Konstruktion zu finden und zu greifen.
Wie Korallenpolypen im Flachwasser schaffen ihre Körper einen einzigartigen Lebensraum in der Tiefsee. Xenophyophoren-Wiesen bedecken große Gebiete im Atlantik und Pazifik, wie Lisa Levin, Meeresökologin an der Scripps Institution of Oceanography, und Rebecca R. Helm im Online-Magazin »Nautilus« (http://oceans.nautil.us/ feature/692/the-largest-cells-on-earth) schreiben. Xenophyophore stellten ein wenig bekanntes Element der marinen Biodiversität dar, schreiben sie. Sie seien auch sehr anfällig für Störungen, etwa durch menschliche Aktivitäten. Viele der Riesen-Einzeller ernähren sich von dem »Meeres-Schnee«, der auf sie aus der Welt oben herabrieselt. Sie verdauen diese Überreste und stoßen Abfälle aus, die tierischen Exkrementen ähneln.
Wissenschaftler unter der Leitung des Ökologen Andrew Gooday von der University of Southampton verwendeten CT-Scans, um in Xenophyophoren-Schalen zu blicken. In der Hülle breitet sich jede Zelle aus wie die Zweige eines Baumes. Mit der ausgeklügelten Struktur dieser Schalen und dem Abfall, den sie produzieren, schafft sich jede Zelle eine Miniaturwelt.
In den späten 1980er Jahren begann Lisa Levin sich für Xenophyophore zu interessieren. Sie stellte fest, dass das Innere dieser Einzeller selbst für mehr als 15 Tiergruppen, darunter Schwämme, Weichtiere, Krebstiere und Polychaetenwürmer, einen Lebensraum bietet. Die Zellburgen beherbergen mehr als 100 der genannten Einzeltiere. Sie funktionieren wie Wohnhäuser für andere Tiere, selbst für Fischgelege.
Die Riesenzellen verleihen einem wenig Abwechslung bietenden Lebensraum Struktur. Xenophyophore-Wiesen sind heute als Hotspots biologischer Vielfalt anerkannt. Sie sind für die Artenvielfalt in der Tiefsee so wichtig, dass sie von den Vereinten Nationen als Indikatoren für gefährdete Meeresökosysteme ausgewiesen werden.
Die reichsten Xenophyophoren-Wiesen kommen in der Clarion-Clipperton-Bruchzone vor, einer Region zwischen Hawaii und Mexiko. Eine 2016 durchgeführte Meeresbodenuntersuchung ergab 14 Xenophyophoren-Arten. Allerdings interessiert das Gebiet inzwischen weniger wegen der exotischen Einzeller, sondern wegen faustgroßer Felsen, sogenannter polymetallischer Knötchen. Denn die enthalten Mangan, Nickel, Kupfer und Kobalt - gesuchte Rohstoffe. Kobalt allein erzielt mehr als 50 US-Dollar pro Kilogramm. Es liegen also buchstäblich Milliarden auf dem Meeresgrund.
Die Internationale Meeresbodenbehörde hat bereits 16 Genehmigungen für den Knötchenabbau erteilt. Traktorgroße Staubsauger, die mit einem Schiff verbunden sind, saugen Knötchen an die Oberfläche. Auch Xenophyophore mitsamt ihrer Ökosysteme werden mit weggesaugt.
»Ich möchte, dass die Menschen lernen, sich um die Tiefsee zu kümmern, und wie wunderbar und seltsam sie ist und phänomenal ungewöhnlich«, schreibt Lisa Levin. »Wir wissen nicht, welche Folgen der Tiefsee-Abbau haben kann - aber wenn die Empfindlichkeit dieser bemerkenswerten Lebensformen Anzeichen dafür ist, müssen wir sehr vorsichtig vorgehen.«
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