• Kultur
  • Ingeborg-Bachmann-Preis

»Mitgefühl, Mitleid, Respekt«

Es geht hier nicht darum, was, sondern wie und für wen erzählt wird: Nava Ebrahimi hat den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 7 Min.

Wer glaubt, es ginge beim jährlichen »Bewerb« in Klagenfurt um den Bachmannpreis um Literatur, sitzt einem Missverständnis auf. Mindestens ebenso sehr steht die Kritik im Mittelpunkt. Und das gilt umso mehr, als die Literaturkritik in einer Krise steckt. Der öffentlich rechtliche Rundfunk streicht ihr die Sendezeit zusammen oder ersetzt sie durch seichte Formate; an die Stelle tiefgehender Auseinandersetzungen mit Werken treten im Radio immer öfter Gespräche mit Autoren und Porträts. Im »Literarischen Quartett« des ZDF sitzt mittlerweile nicht mal mehr ein einziger Literaturkritiker, die Diskussion der Bücher weicht dort regelmäßig dem Geplauder einiger Kultur-Promis.

Hubert Winkels, bis letztes Jahr selbst Jurymitglied beim Bachmannpreis, widmete dieser Krise der Kritik zu Beginn der »Tage der deutschsprachigen Literatur«, wie der »Bewerb« offiziell heißt, seine Eröffnungsrede. Er beklagt, die Kunstkritik sei in eine dienende Funktion geraten, fühle sich weniger den Werken und Büchern verpflichtet als dem Publikum. In einer auf Klickzahlen und Aktualität versessenen Medienwelt, so darf man ihn verstehen, ist kein Platz für eine Beschäftigung mit Kunst als solcher vorgesehen, also mit etwas, das sich dem Tagesgeschehen entzieht, das seinem Wesen entsprechend ins Zeitlose und Transzendente strebt. Winkels sprach von der »Angst des Feuilletons«, das seine Aufgabe nun darin sehe, die Kunst, diese »Zumutung«, abzuwehren.

Die Allzweckwaffe der Redaktionen sei der »kulturtheoretisch aufgezäumte politische Essay als Feuilleton-Aufmacher«. Der Kultur- als erweiterter Politikteil also. Man nimmt sich thematisch aus diesem oder jenem Buch heraus, was man mit der politischen Gegenwart verbinden kann, freilich »auf Kosten des sinnlichen Eigenwerts der künstlerischen Gegenstände«. Falsch liegt Winkels nicht mit dieser Kritik an der Kritik. Wer seine Thesen überprüfen möchte, dem sei ein Experiment empfohlen: Wenn man beim Lesen eines Artikels darüber mutmaßt, welche Partei der Verfasser wählt, ist das kein gutes Zeichen. Und es ist ein noch viel schlechteres Zeichen, wenn man glaubt, die Antwort zu kennen.

Bei den Diskussionen der Texte des coronabedingt erneut ganz ohne Publikum digital stattfindenden Wettlesens drängten sich Winkels Worte immer mal wieder auf, etwa als die Juryvorsitzende Insa Wilke einige Texte dafür lobte, eine transnationale Erinnerungskultur zu befördern, Philipp Tingler allergisch darauf reagierte, wie in einer Erzählung reiche Personen dargestellt würden oder Vea Kaiser die Debatte um Repräsentation ins Absurde trieb, als sie forderte: »Diese Menschen haben auch das Recht, in der Literatur vorzukommen!« Sie meinte Tinder-Nutzer. In diesen Diskussionbeiträgen drängten die Kritiker Themen, Haltungen und Geschmäcker in den Vordergrund, statt sich auf literarische Verfahren, um Formen und Stil, mithin auf die Texte selbst zu konzentrieren.

Die Entscheidungen fielen gleichwohl nachvollziehbar aus. Der Hauptpreis geht an Nava Ebrahimi. Die Autorin ist 1978, ein Jahr vor der iranischen Revolution, in Teheran geboren und in Köln aufgewachsen. Sie arbeitete mehrere Jahre als Redakteurin in Köln und Hamburg sowie als Nahostreferentin für die deutsche Außenwirtschaftsförderung. Ihr zweites Buch »Das Paradies meines Nachbarn« erschien im letzten Jahr.

In ihrem Wettbewerbsbeitrag trifft sich eine iranischstämmige Autorin in New York mit ihrem Cousin, einem erfolgreichen Tänzer. Sie gehen in ein Theater, der Cousin probt auf der Bühne für seine Vorstellung, derweil sprechen sie über ihre Familien, über Flucht und die Suche nach einem Platz in den Gesellschaften, in denen sie gelandet sind. Der Text ließe sich gut einreihen in das Genre der postmigrantischen Literatur, weist aber durch seine formale Anlage weit darüber hinaus. Denn die beiden reden nicht offen über die familiären Traumata. Der Cousin tanzt diese, während die Autorin sie in einem Roman verarbeitet hat, aus dem sie in der Szene vorliest. Nicht das Thema nimmt hier also die Literatur in Beschlag, der eigentliche Kern des Textes ist seine Form, es geht hier nicht darum, was, sondern wie und für wen erzählt wird. Am Ende erweist sich die beschriebene Situation als Performance des Cousins. Die zuvor nichts ahnende Cousine stellt fest, dass sie die ganze Zeit von Zuschauern beobachtet wurden, artig verbeugt sie sich nun zum Applaus. »Als ich mich wieder aufrichte, schwillt das Klatschen und Pfeifen und Johlen abermals an. In den Gesichtern: Mitgefühl, Mitleid, Respekt.« Versteht man das Publikum als Lesepublikum, so werden die beiden Figuren hier nicht für ihre Leistung sondern für ihr Leid beklatscht. Der letzte Satz: »›Ausverkauft‹, flüstert mir mein Cousin ins Ohr, ›und jetzt lass uns gehen, ich brauche dringend ein warmes Bad.‹« Kühl berechnend hat der Tänzer seine Lebensgeschichte an die Meistbietenden verkauft. Der Text ragt aus der postmigrantischen Literatur heraus. Er gibt sich seinen Gesetzmäßigkeiten nicht hin, sondern reflektiert sie auf hohem Niveau. Und Ebrahimi erweist sich damit als würdige Preisträgerin.

Leise Zweifel sind hingegen bei Necati Öziri angebracht, ausgezeichnet mit dem Kelag-Preis, dem Preis der Kärntner-Elektrizitäts Aktiengesellschaft (10 000 Euro) und dem Publikumspreis. Der 1988 geborene Dramaturg und Dramatiker las auf Insa Wilkes Einladung »Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben« vor, den Brief eines Todkranken an seinen unbekannten Vater. Der verließ Deutschland in Richtung Türkei, wissend, dass er dort wegen der gewaltsamen Teilnahme an einem Umsturzversuch viele Jahre im Gefängnis landen würde. Der Text ist ebenso eine Abrechnung wie eine Klage über einen Mangel an Identität.

Nicht nur der Vater fällt als Vorbild aus, auch die eigene Persönlichkeit des Erzählers spielt in Deutschland keine Rolle. Er hat kein Bild von sich, weil niemand ihn zur Kenntnis nimmt. Die Ärzte, die zur Visite an sein Krankenbett kommen, sprechen nicht mit, sondern nur über ihn. »Auch das erinnert mich ans Ausländeramt, wo der dickbäuchige Beamte nie mit mir oder Aylin sprach, sondern immer in der dritten Person über uns. Er sagte, in Deutschland brauche jeder dieses oder jenes Dokument, und wir durften uns dann selbst darunter subsumieren, wie man so schön sagt.«

Gerade solche Stellen, an denen die Themen Politik und Identität sich verbinden könnten, wirken leider recht abgegriffen und variieren, im Gegensatz zu Ebrahimis Text, nur die erprobten Motive sozialengagierter Prosa. Es sei zudem erwähnt, dass Beamte und Ärzte auch sogenannte Biodeutsche häufig wie Objekte behandeln. Eine spezifische Fremdheitserfahrung vermag Öziri so nicht zu vermitteln.

Der mit 12 500 Euro dotierte Deutschlandfunk-Preis geht an Dana Vowinckel, die mit 25 Jahren jüngste Autorin im diesjährigen Wettbewerb. Vowinckel erzählt von drei Generationen einer jüdischen Familie in Israel, Chicago und Berlin. Jurorin Mara Delius lobte in ihrer Laudatio, die Autorin erzähle »mit greifbarer Präsenz« über liberales jüdisches Leben, ohne die lange zurückliegende Shoa klein werden zu lassen. Die Entscheidung geht in Ordnung, auch wenn man dem Text deutlich anmerkt, dass er aus einem längeren Manuskript montiert wurde. Man darf den Preis als Vorschuss auf einen Roman verstehen, der sich großer Aufmerksamkeit sicher sein kann. Klaus Kastberger argwöhnte in der Diskussion sogar, der Text könnte sich an die neue Faszination für das jüdisch-orthodoxe Leben anhängen, also an Deborah Feldmans Bestseller »Unorthodox« oder die israelische TV-Serie »Shtisel«. Die Geschichte sei aber nicht im orthodoxen Milieu verortet, widersprachen die Autorin und deren Agentin sogleich auf Twitter. Eine Berichtigung, die man eigentlich schon von einem der Kollegen hätte erwarten können, denn Kastbergers Verdacht ergibt sich kaum aus dem Text.

Dieser kleine Zwischenfall weist symptomatisch auf eine gewisse Bequemlichkeit in der Jury hin. Sie bekommen die Texte natürlich bereits vor dem Bewerb zu lesen, man dürfte von ihnen also auch etwas qualifiziertere Aussagen über deren Verfasstheit erwarten. Teile der Jury verlieren sich in ihren Statements allerdings in reinen Beschreibungen oder aber haben vorschnell pauschale Urteile zur Hand.

Dagegen hat es Vea Kaiser mit ihrer Recherche vielleicht übertrieben, als sie am Beitrag von Fritz Krenn kritisierte, dieser habe das Schicksal des Schriftstellers Ferdinand Raimund, das am Rande in seinem Text vorkommt, verfälscht dargestellt, sei er doch nicht an diesem, sondern an jenem Datum gestorben und habe außerdem nicht an einer Hundephobie, sondern einer Tollwutphobie gelitten. Recht kleinkariert wirkte die Jury-Debütantin da, die doch an anderer Stelle gerne bereit war, leidlich gut komponierte Texte in die Höhe zu loben.

Als letzter Gewinner nimmt Timon Karl Kaleyta auf dem Treppchen Platz. Er erhält den mit 7 500 Euro dotierten 3sat-Preis für seinen unterhaltsamen Beitrag »Mein Freund am See«. Ein namenloser Erzähler schwärmt darin für seinen Freund Julian, der mit Glück zu einem großen Anwesen am See gekommen ist und dort nun fernab aller Verpflichtungen ein selbstbestimmtes Leben führt. »Bei ihm ist alles so, wie es am besten für immer geblieben wäre, und wahrscheinlich liegt darin das ganze Geheimnis.« Das Geheimnis von Kaleytas Text wiederum liegt in der Leichtigkeit, mit der sein Erzähler auch dann noch daherplaudert, als er erwägt, den bewunderten Freund aus Missgunst im See zu ertränken.

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