Notfälle sind hier alle

Viele stürzt es in tiefere Krisen, dass die Jobcenter derzeit nicht zugänglich sind

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Zurzeit entscheidet der Wachschutz. Ist jemand, der Leistungen nach Hartz IV bezieht und kurz vor Monatsende nichts mehr zu essen hat, ein Notfall, der für einen Vor-Ort-Termin in eins der seit März 2020 pandemiebedingt geschlossenen Jobcentern eingelassen wird oder nicht? Absurde Szenen beschreibt die Sozialberaterin Giulia Borri am Montag vor dem Jobcenter Steglitz-Zehlendorf bei einem gemeinsamen Pressetermin vom Berliner Arbeitslosenzentrum (BALZ) und der Landesarmutskonferenz.

»Neben dem Eingang ist ein Fensterchen. Da klopfen diejenigen, die dringend einen Termin brauchen. Dann weist ihnen von innen jemand die Richtung, dann geht im ersten Stock ein anderes Fenster auf, und ein Mitarbeiter vom Empfang reicht eine Telefonnummer einer Sachbearbeiterin heraus, die angerufen werden kann«, erklärt Borri. So stelle sich an mancher Behörde derzeit die Zugänglichkeit dar. Oder eher die Nicht-Zugänglichkeit. »Wir beobachten, wie immer mehr Hürden aufgebaut werden für Menschen, die Leistungen vom Jobcenter erhalten«, sagt die Mitarbeiterin der Mobilen Sozialberatung.

Am Montag startete diese zum 14. Mal seit 2007 mit dem Beratungsbus vom BALZ in die Saison. Wegen der Pandemie etwas verspätet - normalerweise ist der Bus zwischen April und Oktober vor den Jobcentern der Hauptstadt unterwegs. Unter dem Motto »Irren ist amtlich - Beratung kann helfen« erhalten Ratsuchende vor Ort eine kostenlose Beratung zu Fragen rund um das Arbeitslosengeld II sowie Informationen über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Jobcenter. Wie wichtig solche Informationen gerade in den vergangenen Monaten waren, weiß auch Frank Steger, Koordinator vom BALZ. »Die Leistungsberechtigten kommen nicht ins Haus, Antragsformulare sind nicht zugänglich, die telefonische Beratung wurde massiv abgebaut«, berichtet Steger zur Lage.

Ein großer Teil der arbeitslosen und einkommensarmen Menschen in Berlin gibt einer nicht-repräsentativen Umfrage unter den mehr als 60 Mitgliedsorganisationen der Landesarmutskonferenz zufolge an, dass die persönliche Vorsprache beim Jobcenter oder bei der Agentur für Arbeit in der Pandemie äußerst schwierig bis unmöglich sei. Insbesondere Hilfesuchende, die Sprachprobleme oder keinen Zugang zum Internet haben, stünden buchstäblich vor verschlossenen Türen. Selbst in akuten Notsituationen seien die Behörden für Bedürftige nicht erreichbar. Das habe erhebliche negative Auswirkungen für Menschen, die auf soziale Leistungen existenziell angewiesen sind.

»Wir haben es hier mit einer Zugangsbarriere zu tun, die man sehen und bearbeiten muss«, so beschreibt Barbara Eschen, Sprecherin der Landesarmutskonferenz, die Problematik aus ihrer Sicht. »Es geht nicht darum, ob man ins Kino gehen kann. Es geht um existenzielle Fragen wie die, ob man am Monatsende etwas zum Essen hat, das man in den Kühlschrank stellen kann«, betont Eschen.

»Auch wir haben uns zunächst hinter dem Telefon verschanzt«, erinnert sich Steger. Zugleich hätten die Berater*innen sehr darunter gelitten, wegen der Pandemie-Schutzmaßnahmen ausschließlich telefonisch beraten zu können.

»Wir würden uns wünschen, dass man überall Formulare bekommt und dass die Leistungsberechtigten das Haus betreten können«, sagt Steger. Die Behörden seien laut Sozialgesetzbuch dazu verpflichtet, »den Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach« zu gestalten - »insbesondere durch Verwendung allgemeinverständlicher Antragsvordrucke«. Ihre Verwaltungs- und Dienstgebäude sollen demnach »frei von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren« sein und »Sozialleistungen in barrierefreien Räumen und Anlagen ausgeführt werden«.

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Man habe den Eindruck, dass die Regionalagentur die Digitalisierung vorantreiben wolle, sagt Barbara Eschen. »Dies ist an sich gut, aber nicht für alle möglich.«

Und selbst die telefonische Beratung hat ihre Grenzen: »Wenn Menschen nur noch fünf Euro auf dem Telefon haben, dann können sie nicht zwanzigmal das Jobcenter anrufen, sie müssen dann eben vorbeikommen können«, ergänzt Giulia Borri.

Den ersten Halt hat der Beratungsbus am 21. und 22. Juni vor dem Jobcenter in der Birkbuschstraße 10 in Steglitz. Danach steht der Bus täglich - außer mittwochs - von 8 bis 13 Uhr vor einem der Berliner Jobcenter. Die Stationen finden sich unter: www.beratung-kann-helfen.de

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