»Ein irrationales Russland-Bashing«

EU-Expertin Petra Erler über das europäisch-russische Verhältnis und Brüssels Strategie gegenüber Moskau

Am Dienstag jährte sich der nazideutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Zwei Tage später will die EU Moskau mit der Bestätigung einer neuen Russland-Strategie die Leviten lesen. Schlechtes Timing?

Der 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion hat überhaupt keine Rolle bei der Festlegung dieses Termins gespielt. Denn das ist nicht in der kollektiven Erinnerung der EU verankert. Das hat viel damit zu tun, was Bundespräsident Steinmeier vor Kurzem gesagt hat: Schon uns Deutschen ist nicht klar, dass der Überfall eine logische Konsequenz war von Nationalismus, von Völkerhass, von ethnischem und ideologischem Dünkel, der sich gegen Juden, Slawen und Bolschewiken richtete. Ich glaube vielmehr, die EU-Spitzen wollten erst einmal abwarten, was das Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin bringt.

Zur Person
Petra Erler war nach der Wende Staatssekretärin für Europafragen in der letzten DDR-Regierung. Später arbeitete sie in der Europäischen Kommission, unter anderem als Kabinettschefin des EU-Kommissars Günter Verheugen, der auch für die Osterweiterung zuständig war. Heute ist sie Geschäftsführerin der Strategieberatungsfirma The European Experience Company.

Heißt das, das europäisch-russische Verhältnis wird eher von den USA geprägt als von eigenen europäischen Interessen?
Bedauerlicherweise. Die Überlegung, dass die EU eine eigenständigere Außenpolitik, eine eigenständige globale Rolle anstreben sollte, war in der Trump-Ära prominenter, als sie es heute ist. Wenn man das Dokument zur Russland-Politik liest, das die Kommissionsdienste vorbereitet haben und die Kommission offenbar abgenickt hat, dann kann ich nichts von eigenständiger globaler Verantwortungsübernahme erkennen. Dazu müsste die EU aktiv Konfliktdeeskalation betreiben.

Das Interessanteste am Gipfel zwischen Biden und seinem russischen Gegenüber ist das gemeinsame Statement der Präsidenten zur strategischen Stabilität. Es wurde von den allermeisten Medien nicht wahrgenommen. Aber dort gibt es den bemerkenswerten Satz, dass beide Präsidenten das Prinzip bekräftigen, dass ein Nuklearkrieg nicht gewonnen werden kann und daher auch niemals geführt werden darf. Das zeigt doch, wie fragil die Welt geworden ist. Und wenn der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell dann sagt, die EU-Beziehungen zu Russland werden noch schlechter werden, dann frage ich mich, ob er die Situation überhaupt verstanden hat und wie er seinen Job begreift. Das vorbereitende Dokument für den EU-Gipfel ist der tatsächlichen Lage in keiner Weise angemessen.

Wie konnte es zu dem Tiefpunkt in den Beziehungen EU-Russland kommen?
Die westliche Interpretation lautet, und das lässt sich auch dem jüngsten EU-Papier entnehmen, dass die Schuld für die Verschlechterung allein bei Russland liegt. Praktischerweise blendet die EU ihre eigene Verantwortung komplett aus. Das grundlegende Problem in der EU-Politik gegenüber Russland war, dass die EU ihre Östliche Partnerschaft, also die Beziehungen zu den früheren Mitgliedern der UdSSR, ohne Russland realisieren wollte. Und auch heute scheint es wieder so, dass man sie als Gegengewicht zu Russland entwickeln will. Angesichts der Geschichte und der historischen Verflechtungen in dieser Region ist das eine geopolitische Dummheit ersten Ranges. Wir sehen doch in der Ukraine, wohin diese Entweder- oder-Logik führt.

Sie entlassen Russland aus der Verantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen?
Nein, das tue ich nicht. Für die Verschlechterung der Beziehungen braucht es zwei. Aber mich interessiert, was die EU anders und besser hätte machen können. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass es zwischen der Europäischen Union und Russland seit 2011 keinen Dialog über die Politik gegenüber der Ukraine gab. So wurde die Ukraine dann zur Sollbruchstelle der EU-Russland-Beziehungen. Natürlich ist klar, dass die EU die russische Annexion der Krim nicht tolerieren kann. Aber wie ist es mit der Vorgeschichte? Wer hat beim Umsturz in der Ukraine mitgemischt? Wieso hat sich die EU mit der Opposition solidarisiert und Janukowitsch schließlich in die Arme Russlands getrieben?
Es gab mal einen kurzen Moment der Ehrlichkeit in der EU, als sie Fehler einräumte.

Dann ist das in die Schublade des Vergessens gelegt worden. So wie vergessen ist, dass die EU für viele Anschuldigungen gegenüber Russland überhaupt keine Belege hat – sie vermutet, dass sie recht hat. Zweifelsfrei bewiesen ist das Allerwenigste. Stattdessen glänzt die EU mit einem Sanktionsregime, das Russland in die Subsistenz und in die Arme Chinas treibt. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man möchte, dass es einen wie auch immer gearteten Neustart in den Beziehungen zu Russland gibt oder zumindest eine Konfliktdeeskalation. Interpretiere ich Josep Borrell richtig, dann will die EU das aber gar nicht.

Zumindest ist ein aus drei Punkten bestehendes Papier – Druck auf Moskau in der Menschenrechtsfrage, Ausbau der Cyberabwehrfähigkeiten in Europa und Zusammenarbeit mit Russland in Klimafragen – eher eine dünne Strategie.
Es ist gar keine Strategie. Wir als EU haben über 2200 Kilometer Grenze mit Russland. Wir sind der Haupthandelspartner, der maßgebliche Investor. Aus allem ergibt sich natürlicherweise nicht nur eine Konfliktsituation, sondern es ergeben sich auch Interessenidentitäten. Wir wissen, dass kein großes politisches Problem auf dieser Welt ohne Russland lösbar ist. Wir wissen, dass im Falle eines nicht enden wollenden Wettrüstens der europäische Kontinent der erste wäre, der verheert würde. Wir haben also objektive Interessen, das Verhältnis mit Moskau so zu gestalten, dass die Interessengegensätze nicht unter den Tisch gekehrt werden, aber dass vor allen Dingen das Gemeinsame die künftigen politischen Beziehungen bestimm und die Vernunft regiert.

Das ist keine neue Erkenntnis.
Aber wir folgen ihr nicht. Das Russland-Bashing, das die EU betreibt, ist völlig irrational. Außenpolitik soll keinen Wohlfühlfaktor kreieren, sondern objektiven Interessen folgen. Und unser Interesse in Europa müssen Frieden, Stabilität, die Überwindung der Wohlstandsunterschiede sein – und auch, dass aus ehemals verfeindeten Völkern Freunde werden. Das ist doch die historische Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, dessen wir gerade gedacht haben. Das muss die außenpolitischen Prioritäten unserer Zeit bestimmen.

Stattdessen hält sich die EU mit dem Vorwurf auf, Russland unterminiere uns und das sogenannte regelbasierte internationale System. Letzteres ist eine pure Erfindung des Westens. Offenbar ist nicht das UN-System gemeint, denn China und Russland bekennen sich zum UN-System. Nur, in diesem sogenannten regelbasierten System bestimmt der Westen, was richtig ist und was nicht und nimmt sich das Recht heraus, anderen die Leviten zu lesen. Nach meiner Wahrnehmung funktioniert das nur noch sehr eingeschränkt. Denn wir sind nicht immer die »Guten« und Russland ist nicht immer das »Böse«. Wenn man dieser Erkenntnis folgte, wäre schon viel gewonnen.

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