»Die Brandmauer hält nicht«

Daniel Freund über rechte Bündnisse im Europaparlament, sein Vertrauen in Ursula von der Leyen und den Kampf gegen Korruption

Daniel Freund im Europawahlkampf 2024
Daniel Freund im Europawahlkampf 2024

Im Juli musste sich Ursula von der Leyen im Europaparlament einem Misstrauensantrag stellen, der von Abgeordneten rechtsextremer Fraktionen eingebracht wurde. Es ging unter anderem um undurchsichtige Geschäfte der EU-Kommissionspräsidentin mit Pharmakonzernen während der Pandemie. Wie haben Sie abgestimmt?

Ich habe gegen diesen Misstrauensantrag gestimmt, wie ja auch eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Es gibt weiter ein Vertrauen in Ursula von der Leyen und sie hat weiterhin eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Allerdings ist diese Mehrheit schon kleiner gewesen als jene, die im letzten Jahr die EU-Kommission bestätigte. Und sogar noch kleiner als jene Mehrheit, die Ursula von der Leyen vor ziemlich genau einem Jahr als Kommissionspräsidentin gewählt hat.

Auch Sie persönlich haben weiterhin Vertrauen in die Kommissionspräsidentin?

Ich halte das Agieren Ursula von der Leyens in einigen Bereichen für sehr problematisch. Aber dieser Misstrauensantrag von der extremen Rechten, der einfach nur darauf abzielte, Europa ins Chaos zu stürzen, ohne irgendeine Alternative zu nennen, das ist nicht der richtige Weg. Natürlich habe ich persönlich, haben auch wir als Grüne im Europaparlament Kritik. Besonders Sorgen macht uns Folgendes: Nachdem wir in den fünf Jahren der letzten Legislatur zusammen mit Ursula von der Leyen den Green Deal auf den Weg gebracht haben, wird der jetzt an vielen Stellen ausgebremst, abgeschwächt oder sogar rückabgewickelt. Und das in einer Situation, in der wir Extremwetterlagen haben oder Hitzesommer. Und in der wir in vielen Bereichen sehen, dass Europa im Wettbewerb um die Zukunftstechnologien zunehmend zurückfällt. Sei es bei Elektroautos, sei es bei Wärmepumpen, bei vielen der Technologien, die wir brauchen. Deshalb ist dieser Green Deal so wichtig, und deshalb haben wir so heftige Kritik, dass die Kommissionspräsidentin ihn nicht so entschieden verfolgt wie in der Vergangenheit.

Daniel Freund

Daniel Freund ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments für die Grünen. Seine Hauptthemen sind Transparenz, Demokratie, Kampf gegen Korruption und die Zukunft der EU. Freund ist Mitglied der Ausschüsse für Verfassungsfragen, Haushaltskontrolle und Inneres sowie im Vorstand der fraktionsübergreifenden Spinelli Group.


Sie haben den Green Deal angesprochen. Es gibt noch ein paar andere Punkte, bei denen die Kommission ein Rollback versucht, beispielsweise mit der »Einhegung« kritischer Nichtregierungsorganisationen. Ist das schon der gestärkte Einfluss der Rechtsfraktionen und der extremen Rechten im EU-Parlament?

Absolut. Seit der Europawahl im letzten Jahr gibt es deutlich mehr rechte und rechtsextreme Abgeordnete im Europäischen Parlament. Und obwohl wir offiziell eine Brandmauer haben, sehen wir eben zunehmend, dass es Mehrheitsbeschlüsse gibt gemeinsam von Rechten und Rechtsextremen. Also dass die Europäische Volkspartei, die Fraktion von CDU und CSU, immer wieder mit den Leuten von Le Pen, Orbán und selbst mit der AfD gemeinsame Sache macht, gemeinsam Anträge einbringt oder für deren Anträge stimmt. Die Brandmauer hält nicht. Das hat ganz konkrete Auswirkungen zum Beispiel dabei, NGOs zu diskreditieren oder auch dabei, zunehmend EU-Gelder für Abschottungsmaßnahmen an der europäischen Außengrenze zu verwenden. Oder eben auch bei der Entkernung und Rückabwicklung des Green Deal. Man kann mit Rechtsextremen zwar viel kaputtmachen, aber Europa nicht aktiv gestalten. Die Konservativen sind da sehr zwiegespalten: Einerseits helfen sie den Rechtsextremen bei deren Zerstörungswerk. Andererseits sollen Grüne, Sozialdemokraten und Liberale dann bereitstehen, wenn es darum geht, den Haushalt oder bestimmte Gesetze auf den Weg zu bringen. Es braucht am Ende eine stabile, pro-europäische Mehrheit in Europa und im Europäischen Parlament und nicht ein Hin- und Herlavieren aus kurzfristigen Interessenlagen.

Stichwort kaputtmachen. Ein jüngstes Beispiel war das Scheitern der Ethikbehörde, die Korruption in der EU verhindern soll. Die Verhandlungen über die Behörde waren praktisch abgeschlossen. Was ist da passiert?

Lassen Sie mich erst noch einmal zwei Worte sagen, warum wir ein solches unabhängiges Gremium brauchen. Wenn wir glaubwürdig sein wollen in unserer Kritik von Korruption in der Ukraine oder auch in Ungarn zum Beispiel, dann müssen natürlich auch die EU-Institutionen frei von Korruption sein. Und wir müssen gucken, dass beim Lobbying keine Korruption, keine unlautere Einflussnahme stattfindet. Wir haben zwar ganz gute Regeln, aber die werden bisher noch nicht wirklich durchgesetzt. Immer, wenn es dagegen Verstöße gibt, passiert am Ende nichts, die betreffenden Leute werden nicht bestraft oder sanktioniert. Deshalb hatte ich ein unabhängiges Gremium vorgeschlagen, das diese Regeln durchsetzt. Nach Katar-Gate, dem 2022 aufgedeckten Korruptionsskandal um die damalige Parlaments-Viezepräsidentin Eva Kaili, ging das endlich voran; kurz vor der Europawahl im Juni 2024 haben wir eine Einigung von acht EU-Institutionen getroffen, dass wir so ein solches Ethikgremium einrichten. Es war quasi die letzte Abstimmung der Legislatur.

Eine Abstimmung, die praktisch ohne Folgen geblieben ist.

Ich habe auch gedacht, dass es mit Beginn der neuen Wahlperiode endlich losgeht. Aber nun ist bereits wieder ein Jahr vergangen und das Parlament setzt den Beschluss nicht um. Auch da spielen die neuen Mehrheiten eine Rolle. Als es darum ging, ob man dieses neue Gremium auch in unsere eigene parlamentarische Geschäftsordnung aufnimmt, was dem Ethikgremium eine große Verbindlichkeit verschafft hätte, hat die EVP dagegen gestimmt. Dabei haben die Konservativen diese Vorschläge selbst mit erarbeitet. Aber wir sind weiter durch die getroffene Vereinbarung der acht EU-Institutionen – neben dem Parlament unter anderem auch die EU-Kommission oder die Zentralbank – daran gebunden, das Gremium einzuführen.

Wie soll das funktionieren gegen den Widerstand der größten Parlamentsfraktion?

Ganz einfach: Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der dafür zuständig ist, muss einfach die erste Sitzung einberufen und die Arbeit beginnen. Es wäre wahrscheinlich sauberer und besser gewesen, alles über die Geschäftsordnung zu verankern. Aber wir können auch mit der aktuellen Geschäftsordnung arbeiten und die Behörde ans Laufen kriegen. Das muss jetzt direkt nach der Sommerpause passieren.

Bei den Grünen im Parlament sind keine Korruptions- oder kritischen Lobbyismusfälle bekannt geworden. Ist das ein Thema nur von konservativen und Rechtsaußen-Fraktionen, oder haben Sie als Grüne schlicht zu wenig Gelegenheit dafür?

Also Katar-Gate zum Beispiel war ja ein Fall, der ausschließlich Sozialdemokraten betraf. Ich glaube am Ende, dass wir Grünen bisher Glück gehabt haben, dass es uns nicht betrifft. Ich denke, Korruption und Regelverstöße können überall passieren. Deshalb braucht es ja unabhängige Kontrolle. Wenn jemand gegen die Regeln verstößt, egal wo er oder sie herkommt, dann muss es da Sanktionen geben. Aber wenn man sich die Verurteilung von Le Pen und ihrer Partei anschaut oder die erheblichen Vorwürfe, dass die AfD und andere rechtsextreme Parteien viele Millionen Euro aus dem EU-Parlament in den letzten Jahren veruntreut, missbraucht und auch geklaut haben sollen, dann scheinen besonders die Feinde der EU dafür anfällig, europäische Gelder zu missbrauchen. Es sind übrigens dieselben, die immer am lautesten schreien gegen die Brüsseler Bürokraten und behaupten, es gäbe ausufernde Korruption in den EU-Institutionen.

Meinen Sie damit jetzt auch die ungarische Regierung?

Ja, damit meine ich auch die ungarische Regierung. Viktor Orbán ist der korrupteste Regierungschef, den wir haben in der EU. Der hat Ungarn in den letzten Jahren systematisch in einen Mafiastaat umgebaut. Mit vielen Milliarden auch EU-Geldern, die da verschwinden und das direkte Umfeld von Viktor Orbán, seine Schulfreunde, seine Familienmitglieder unfassbar reich machen. Sein Schwiegersohn hat allein im letzten Jahr seine Vermögenswerte verdoppelt auf über 500 Millionen Euro, sein Schulfreund Lőrinc Mészáros ist der reichste Mann in Ungarn, laut »Forbes« mehrfacher Milliardär, und das offenbar mit geklauten EU-Geldern. Dass wir uns das immer noch gefallen lassen, dass immer noch EU-Gelder nach Ungarn überwiesen werden, wenn wir wissen, die nutzen das, um da mit dem Privatjet auf die Malediven zu fliegen oder sich Jachten zu kaufen – das ist unfassbar. Ich habe vor ein paar Wochen einen Brief initiiert mit Abgeordneten aus allen demokratischen Fraktionen im Europaparlament. Er fordert, dass keine EU-Gelder mehr nach Ungarn überwiesen werden, solange es dort keine Antikorruptionsinfrastruktur gibt.

Den Brief kenne ich und auch die bisherigen Maßnahmen gegen Ungarn, beispielsweise das Einfrieren von Strukturfondsmitteln. Genützt hat es aber nichts.

Ich denke schon, dass die 18 Milliarden Euro, die derzeit auf Eis liegen, Wirkung zeigen. Wir haben zum ersten Mal in 15 Jahren die Situation, dass Orbán in den Umfragen hinten liegt, dass es einen Mitbewerber gibt, der aussichtsreich ist, ihn eventuell bei den anstehenden Wahlen im nächsten April zu schlagen. Das hat schon auch damit zu tun, dass wir gerade aus dem Europäischen Parlament Druck machen, die Korruption der Regierung auf den Tisch gebracht und eben auch Gelder eingefroren haben. Aber natürlich würde ich mir wünschen, es würden alle Gelder eingefroren, man würde Ungarn auch das Stimmrecht in den EU-Entscheidungsgremien entziehen. Denn Orbán hat mit seinem Veto am Ende auch unsere Sicherheit gefährdet, als er zum Beispiel Sanktionen gegen Russland oder die Unterstützung der Ukraine blockiert hat.

Im Entwurf zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU, zu dem gerade die Debatte begonnen hat, wird die Zahlung von EU-Geldern an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeitsprinzipien geknüpft. Das müsste Sie doch als jemand, der sich schon sehr lange mit diesem Thema beschäftigt, freuen, Trotzdem haben Sie Kritik daran.

Nein, nein, die Bindung von Zahlungen an Einhaltung der Werte unterstütze ich natürlich. Aber das ist auch heute eigentlich schon der Fall. Man kann das immer noch verstärken, noch deutlicher machen, vielleicht auch die Verfahren vereinfachen. Aber die Möglichkeit, aus diesem Grund Gelder zurückzuhalten, die gibt es heute schon, nur wird sie eben nicht vollumfänglich genutzt. Am Ende braucht es auch den politischen Willen, da in die Auseinandersetzung zu gehen. Aber ja, alles, was den Schutz von Rechtsstaat, von Demokratie, von Grundrechten verbessert, da bin ich sehr dafür. Und vor allem begrüße ich den vorgeschlagenen neuen Mechanismus, dass die Gelder, wenn sie eingefroren werden, so wie wir das in Ungarn seit zweieinhalb Jahren haben, dann umgeleitet werden sollen in Antikorruptions- und Demokratiearbeit. Die Schwierigkeit ist jetzt natürlich, dass dieser nächste Finanzrahmen nicht nur vom Europaparlament, sondern einstimmig auch von den Regierungen beschlossen werden muss. Also auch von Ungarn oder der Slowakei, wo es ebenfalls Probleme mit Rechtsstaatlichkeit und Korruption gibt.

Das Einstimmigkeitsprinzip ist aber nicht zuletzt eingeführt worden, gerade um kleinere Staaten vor Bevormundung zu schützen.

Ich halte diese Einstimmigkeit für einen der größten Konstruktionsfehler der Europäischen Union. Aber ich kann wie Sie verstehen, wo das herkommt. Als wir mal mit sechs Ländern angefangen haben, wollte man dem kleinen Luxemburg etwas an die Hand geben, damit es nicht vom großen Deutschland, vom großen Frankreich, vom großen Italien übergangen wird. Aber nun sind wir hier mit 27 Ländern. Wir machen gemeinsam Gesetze, wir wollen in der Verteidigung enger zusammenarbeiten, all so etwas. Und da führt die Einstimmigkeit einfach immer häufiger zur Erpressung und dazu, dass wir uns immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Und das in einer Welt, wo die Amerikaner weniger verlässlich sind, mit einem aggressiven Putin im Kreml. Das Einstimmigkeitsprinzip ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen ran an die Art, wie wir Entscheidungen treffen in der EU, da braucht es dringend Reformen. Auch weil wir die EU noch mal erweitern wollen, mit der Ukraine, mit den Ländern des Balkans.

Das sind Forderungen, die auch von der EU-Zukunftskonferenz, an der sich Zehntausende Europäer*innen beteiligten, erhoben wurden. Fast 200 konkrete Empfehlungen wurden nach über einem Jahr Beratungen am 9. Mai 2022 an die Spitzen der EU-Institutionen übergeben. Das Europaparlament hatte beschlossen, an deren Umsetzung dranzubleiben. Passiert ist aber nichts, oder?

Wir haben das im Parlament schon sehr ernst genommen. Nicht nur, dass wir weiter im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern über diese Reformen bleiben wollen. Sondern wir haben daraus ein sehr konkretes Reformpaket geschnürt. Es ist ja so, dass ich als Europaabgeordneter kein Initiativrecht habe, ich darf keine Gesetze vorschlagen, das kann nur die Europäische Kommission. Aber ich habe Initiativrecht bei Vertragsänderungen. Und dieses Initiativrecht haben wir nach der Zukunftskonferenz zum ersten Mal genutzt. Ich war einer der fünf Berichterstatter für die Zukunftskonferenz. Wir haben uns von den Konservativen bis zur Linken gemeinsam hingesetzt und das Reformpaket, das die Konferenz vorgelegt hat, in konkrete Änderungen an den Verträgen übersetzt. Und das wurde dann auch im Parlament mit deutlicher Mehrheit beschlossen.

Trotzdem hat sich nichts getan.

Na ja, wir können zwar ein Vertragsänderungsverfahren auf den Weg bringen, aber wir können es nicht alleine beschließen. Und man muss einfach konstatieren, dass die Staats- und Regierungschefs uns jetzt seit zwei Jahren ignorieren, noch nicht mal den Dialog zu dem Thema suchen. Man kann ja sagen, all die Vorschläge, die das Parlament gemacht hat, sind Unfug. Aber noch nicht mal ins Gespräch zu gehen, das geht nicht. Ich finde es schon problematisch, wenn Staats- und Regierungschefs wie Merz, Macron oder Meloni oder wer auch immer in Sonntagsreden davon sprechen, dass wir enger zusammenstehen müssen auf europäischer Ebene. Aber dann blockieren, wenn es konkret darum geht, das auch umzusetzen mit entsprechenden Änderungen an Verträgen und Gefüge der EU. Wir müssen diese Vorschläge, die aus einem breiten Debattenprozess in der Zukunftskonferenz hervorgegangen sind, ernst nehmen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns.

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