Der Tank war leer

Favorit Niederlande wiederholt alte Fehler und scheitert kraftlos im Achtelfinale an Tschechien

  • Ein Platzverweis hatte gereicht, um die hoch gehandelten Niederländer aus der Bahn zu werfen. Mit 0:2 verloren sie gegen die taktisch cleveren Tschechen. Dabei hatte ein Altstar davor gewarnt, wieder die starke Vorrunde zu überschätzen.
  • Lesedauer: 4 Min.
Nicht einmal die Danksagung vor dem eigenen Anhang wollte an diesem verstörenden Abend gelingen. Fast alle der 7000 in Orange gekleideten Fans hatten artig ausgeharrt, als die Blamage von Budapest für ihr niederländisches Nationalteam längst feststand. Sie warteten, was Kapitän Georginio Wijnaldum und seine Gefährten nach dem 0:2 im Achtelfinale gegen Tschechien noch tun würden. Doch dann bedankten sich die Spieler nur mit großem Sicherheitsabstand vorsichtig für die Unterstützung ihrer Landsleute – Pfiffe hallten daraufhin durch die Puskas-Arena. Wenig später, als sich die euphorisierten tschechischen Spieler auf eine Ehrenrunde machten, prasselte selbst aus den holländischen Blöcken warmer Applaus auf den tapferen Außenseiter herab. Die Fußballanhänger besaßen ein feines Gespür dafür, wer an diesem Sommerabend wirklich mit heißem Herzen EM-Geschichte hatte schreiben wollen.

52 834 Besucher bekamen im abermals fast voll besetzten ungarischen Nationalstadion das Lehrstück aufgeführt, wie sich eine individuell bessere Mannschaft selbst schlagen kann. Die saft- und kraftlose Vorstellung der Niederländer erinnerte an so manches Qualifikationstrauma bei den verspielten Teilnahmen zur EM 2016 und WM 2018. Danach deutete Bondcoach Frank de Boer an, dass persönliche Konsequenzen folgen könnten. »Wir haben unser Level nicht erreicht und müssen gemeinsam darüber nachdenken.« Er habe eine andere Route im Kopf gehabt, fügte der 51-Jährige noch an. Sogar vom Gewinn des Endspiels in London hatte de Boer gefaselt.

Dem erst im September 2020 installierten Nationaltrainer könnte dieses Achtelfinalaus auf die Füße fallen. Aus der Emotion heraus wolle er keine Entscheidung treffen, erklärte der 112-fache Nationalspieler, dem anzusehen war, wie sehr ihn auch die Debatten am vermeintlichen Verrat des angeblich heiligen 4-3-3-Systems zermürbt hatten. Gut möglich, dass der eigentlich bis 2022 gebundene Nationaltrainer einem anderen die Aufgabe überlässt, der Elftal mehr Verlässlichkeit auf dem Weg zur WM in Katar beizubringen.

So schnell geht das: aus dem Hochgefühl ins Stimmungstief. Es war eine verhängnisvolle Mixtur, die zum frühen Ausscheiden führte: Letztlich leistete sich die Niederlande eben doch Anflüge jener Überheblichkeit, die schon bei der EM 2008 nach einer famosen Vorrunde mit drei Siegen im ersten K.-o.-Duell gegen Russland das Weiterkommen gekostet hatte. Assistenzcoach Ruud van Nistelrooy hätte sich all die Warnungen vor den Versäumnissen der Vergangenheit auch sparen können, wenn seine Spieler darauf so gut hören wie Stadionbesucher in Budapest auf die Aufforderung, eine Maske zu tragen.

»Es war fast so, als ob wir müde wären, obwohl ich keine Ahnung habe, warum. Für einige der Jungs war es das größte Spiel ihrer bisherigen Karriere«, rätselte Frenkie de Jong. Neben dem Mittelfeldspieler vom FC Barcelona versagte auch der nach Paris wechselnde Wijnaldum eklatant. Wenn der zentrale Aufbauspieler nur 22 Ballkontakte hat und in 90 Minuten karge zehn Pässe spielt, sagt das alles. »Das tut sehr weh. Wir hatten einen kompletten Tag zum Abschalten und haben zu wenig geleistet«, gestand der abgemeldete Anführer einer Mannschaft, die sich den Luxus leistete, mehr als zwölf Kilometer weniger zu laufen als ihre Gegner.

Ohne richtige Bewegung gelang es logischerweise nie, Dominanz aufbauen; der Doppelsturm mit den schnellen Memphis Depay und Donyell Malen wartete vergeblich auf Zuspiele, zumal die Tschechen die Außenbahnen für die nachrückenden Verteidiger Denzel Dumfries und Patrick van Aanholt doppelt und dreifach abriegelten. Nur einmal, als Depay mit der Hacke auf Malen durchsteckte und dieser beim Alleingang am tschechischen Torhüter Tomas Vaclik hängen blieb, lag die Führung in der Luft. Fast im Gegenzug stoppte dann der stolpernde Matthijs de Ligt den Ball mit der Hand; der verhängte Platzverweis war der Anfang vom Ende (52.).

»Das fühlt sich schrecklich an. Denn wir haben nur wegen dem verloren, was ich getan habe«, nahm der Verteidiger alle Schuld auf sich. »Das sind entscheidende Momente. In einer Minute hat sich das Blatt gegen uns gewendet«, sagte Coach de Boer, der allerdings wissen müsste, dass die Gründe für die seit dem Triumph 1988 unerfüllte EM-Geschichte der Oranjes weniger in individuellen Aussetzern liegen als in einem Kollektivversagen.

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