Der Mann mit der roten Posaune

Vom Dorfdepp zum Millionenseller: der schwedische Jazzmusiker Nils Landgren

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 7 Min.

Handtuchumschlungen sitzt ein kahlköpfiger Mann auf einem Steg. Oben ohne, aber mit charakteristisch lässigem Grinsen. Das Foto, Ende April auf Insta- gram veröffentlicht, deutet es an: Soeben ist Nils Landgren, 65, der eisigen Ostsee entstiegen. »Sieben Grad hat das Meer jetzt - jeden Tag muss ich das nicht machen«, erzählt der Mann mit der roten Posaune 24 Stunden später in einer Videoschalte, während er in seinem warmen Büro in Südschweden sitzt.

An der Wand hinter ihm hängen dicht an dicht: goldene Schallplatten, Preise, Auszeichnungen. Nils Landgren hat in Europa so ziemlich alles erreicht, was ein Musiker erreichen kann. Die Gründung mehrerer erfolgreicher Bands, siebenstellige Verkaufszahlen, Engagements bei namhaften Big Bands, die Leitung illustrer Festivals (Jazzfest Berlin, Jazz Baltica). Gleich mehrfach gewann er den schwedischen Grammy. 2019 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine Rolle »im kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Skandinavien«.

Landgren hat in den vergangenen vierzig Jahren nur selten mehr als eine Woche am selben Ort verbracht. Die Pandemie hat auch seine Tourneepläne durchkreuzt, jedoch: »Ich hatte ein ganzes Jahr mit meiner Frau zusammen - fantastisch. Das Meer ist von hier nur 250 Meter entfernt.« Das Privatleben des Schweden kam 2020 zu kaum gekannter Entfaltung - allerdings wurde die Berufsausübung schwierig. Mehrere Studios sagten seiner Nils Landgren Funk Unit kurzfristig die Aufnahmetermine ab. Selbst im weitgehend lockdownfreien Schweden durften im November kaum noch Menschen zusammenkommen. Schließlich klappte es doch noch - gemeinsam mit einem Toningenieur blieb die sechsköpfige Band genau unter der Grenze von acht Personen und konnte in Stockholm aufnehmen.

Das Resultat: »Funk is my Religion«. Es ist das elfte Funk-Unit-Album - alle veröffentlicht bei ACT. Für das deutsche Label sind die Schweden seit mehr als 25 Jahren das beste Pferd im Stall: Keine europäische Jazz-Band verkauft mehr Platten als sie. Das neue Werk beginnt ungewöhnlich bedächtig: mit einem Bläser-Intro, das an das Thema des Soul-Klassikers »People Make the World Go Round« erinnert. Nicht die schlechteste Referenz. »Funk is my Religion« ist vermutlich das selbstsicherste und lockerste Album der Gruppe bislang. Auch der coole Jazzfunk-Sound der von Landgren so verehrten US-Band The Crusaders steht mehrfach Pate. »See ya in Court« hat dagegen einen trockenen James-Brown-Groove, den so in Europa nur wenige beherrschen.

Die Liebe zu »Black Music« hat bei Nils Landgren familiäre Hintergründe. Zuhause im mittelschwedischen Degerfors liefen Duke Ellington und Count Basie in Dauerrotation. Landgrens Vater entspannte von der Schufterei im örtlichen Stahlwerk, indem er Trompete spielte. Der kleine Nils, geboren 1956, trommelte schon früh in einer Blaskapelle.

Ende der 60er Jahre schleppte sein älterer Bruder eine Platte von Otis Redding an. »Wie mich das bewegt hat! Die Stimmen, die Rhythmusgruppe - das war total neu für mich, hatte aber trotzdem mit Jazz zu tun. Dann kam Jimi Hendrix, später James Brown und Miles Davis. Ich war völlig aus dem Häuschen. Und meine Mutter interessierte sich für klassische Musik. All das hat mich zu dem Musiker gemacht, der ich heute bin.«

James Brown wurde später zum Vorbild für den Sänger Landgren. 1993 durfte er für eine Stockholmer Soulband Repertoirevorschläge machen - und wählte »Sex Machine«. »Wahrscheinlich habe ich eher geschrien als gesungen«, erinnert sich der Schwede. »Aber ich dachte einfach: go for it.«

Heute wohnt Nils Landgren, der auch schon in Stockholm und Hamburg lebte, wieder in einem Dorf im ländlichen Schweden, kleiner noch als sein Geburtsort. Aber: am Meer. »Fischer waren überall auf der Welt - die sind offen. Die Mentalität in einem Industrieort ist anders, ich würde nie zurück nach Degerfors gehen. Die Offenheit habe ich im Wald vermisst. Aber ich möchte dem Ort etwas zurückgeben.«

Bereits seit Jahren unterstützt der Musiker als Sponsor Degerfors IF, den Fußballverein seiner Heimatregion - »selbstklar«, wie er es in charmantestem Deutsch ausdrückt. Seine Jugend in den 60er Jahren hat der Posaunist als unbeschwerte Zeit in Erinnerung. »Es gab damals das Gefühl: Die Zukunft gehört uns. Aber ich wusste immer: Wenn ich hier bleibe, dann sterbe ich. Ich hätte mich totgesoffen.«

Zurück in die 70er. Noch während seines Studiums der klassischen Posaune zog Landgren nach Stockholm, spielte ständig Gigs und konnte dennoch kaum seine Miete bezahlen. Er war zwanzig Jahre alt. »Ich weiß es noch genau: Im Januar 1976 habe ich 34 Kronen verdient, das wären heute nicht einmal fünf Euro. Nach einer Weile hat es sich rumgesprochen, dass es da so einen Dorfdepp gibt, der Posaune spielen kann. So bin ich bei Popsänger Björn Skifs gelandet. Auf unseren Tourneen war immer ein Typ namens Benny Andersson mit seinem Akkordeon dabei - das hat er auf den Afterpartys gespielt.«

So kam es zu Landgrens einziger Zusammenarbeit mit den Megastars von Abba - auf »Voulez-Vous« spielt er im Titelsong Posaune. »Mir war wurscht, dass es unter Jazzern uncool war, mit Abba zu arbeiten. Als Studiomusiker nahm ich die Jobs, die ich kriegen konnte. Ich wollte lernen, wie man so eine Musik spielt. Viele haben mir gesagt: Bleib da hinten in der Bläsergruppe, spiel deine Stimme und halt die Klappe. Aber ich wollte schauen, ob ich nicht mehr in mir habe.« Wenig überraschend: Das hatte er. Auch wenn er zu jazzig für ein Rock- und zu rockig für ein Jazzpublikum war, blieb Landgren dran. Der Durchbruch ließ lange auf sich warten. 1994 erschien sein ACT-Debüt »Live in Stockholm«. Erst die Zusammenarbeit mit dem deutschen Label offenbarte, wie fleißig dieser Schwede ist. Jedes Jahr ist er an mehreren Veröffentlichungen beteiligt: Duo-Alben mit Pianisten, eigene Balladenalben, Produktionsarbeiten für Kollegen und Sängerinnen und unlängst das Debüt des Allstar-Quartetts 4 Wheel Drive mit Pianist Michael Wollny. Stets ist da dieser weiche Posaunenton, der laut werden kann, aber meist eine gewisse nordische Coolness wahrt.

Nicht zu vergessen: die Liebe des Soulfans Landgren für Tradition und Folklore. Alle zwei Jahre gibt es ein neues »Christmas With My Friends«-Album. Darauf finden sich nicht bloß Weihnachtslieder, sondern gänzlich unkitschige Eigenkompositionen - eingespielt von einer Band, in der mehr Frauen als Männer auftreten. Noch immer ungewöhnlich im internationalen Jazz.

»Wir Männer haben uns das Recht genommen, diese Musik für uns zu behalten«, so Landgren. »Dabei gibt es doch Platz für viel mehr Dialekte im Jazz! Es wäre unnatürlich, wenn es nicht so wäre.« Doch nicht bloß Jazzerinnen fördert der Schwede, der »Female Empowerment« schon betrieben hat, als das Wort in Deutschland niemand auch nur buchstabieren konnte. Auf »Funk is My Religion« hat er zwei instrumentale Titel nach berühmten US-Amerikanerinnen benannt: »Amanda« und »Kamala«.

»Ich weiß nicht, wie Kamala Harris als Song klingt«, sagt Landgren über die US-amerikanische Vizepräsidentin. »Aber ich wollte sie ehren, genau wie die junge Dichterin Amanda Goreman. Das sind starke Frauen, die eine sehr positive Kraft in die USA gebracht haben.«

Deutschland nennt der in der Provinz Schonen beheimatete Musiker sein »zweites Zuhause«; die Sprache spricht er fließend. »Die Deutschen sind große Kulturkonsumenten, jede Stadt hat ein eigenes Orchester. Was gar nicht negativ gemeint ist: Sie sind ein bisschen, wie soll ich sagen, viereckiger als die Schweden. In Schweden laufen alle bei Rot über die Ampel, in Deutschland bleibt man selbst mitten in der Nacht stehen. Das muss nicht gut oder schlecht sein. Es geht erst einmal um Respekt.«

Kaum möglich die Zahl der Alben zu schätzen, an denen der Posaunist, Sänger, Komponist und Produzent in fast fünf Jahrzehnten beteiligt war. Aber - es muss doch noch immer Künstler*innen geben, die seit langem auf der Wunschliste für eine Zusammenarbeit stehen, oder, Mr. Red Horn? Nils Landgren grinst sein schönstes Grinsen. »Das sage ich nicht. Wenn ich meine Träume verraten würde, wären sie ja keine Träume mehr.«

Nils Landgren Funk Unit: »Funk Is my Religion« (ACT/Edel)

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