Digital aus der Nahverkehrskrise

Verkehrsbetriebe setzen auf neue Tarifmodelle und flexiblere Fahrtangebote

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir sind froh und dankbar, dass die Menschen mit den Rollkoffern in die Stadt zurückkommen«, sagt Eva Kreienkamp, Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) am Dienstag bei einer Online-Pressekonferenz der Landesgruppe Ost des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Denn Touristen seien eine wichtige Kundengruppe im öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt. Zuletzt haben sich die Fahrgastzahlen erholt, trotzdem fahren weiterhin knapp ein Drittel weniger Menschen mit Bahnen und Bussen als vor der Coronakrise. Immerhin ein deutlicher Sprung nach vorn, vor einem Monat meldete die BVG, dass erst 50 Prozent der Zahlen von vor der Pandemie erreicht worden seien. »Wir müssen aber die Fahrgastzahlen vom Stand 2020 verdoppeln, um unser eigentliches Ziel zu erreichen: Einen Beitrag zur Mobilitätswende zu leisten«, sagt Kreienkamp. Von über 1,1 Milliarden im Jahr 2019 auf nur noch knapp 730 Millionen im Jahr eins von Corona brachen die Fahrgastzahlen ein.

Neben dem Ausbau des Angebots sollen auch neue Tarifangebote dabei helfen, nicht nur Passagiere zurückzugewinnen, sondern auch neue Kunden zum Umstieg zu bewegen. »Im September startet unser erstes Pilotprojekt für die entfernungsabhängige Tarifierung«, kündigt Eva Kreienkamp an. Soll heißen: Man checkt am Startpunkt der Fahrt mit dem Smartphone ein und am Ende wieder aus, der Preis wird im Anschluss errechnet. Doch der Anfang wird erst mal überschaubar ausfallen, zunächst soll das nur im Berliner Stadtgebiet, also dem Tarifbereich AB, möglich sein. »Dann werden wir den nächsten Schritt gehen«, so Kreienkamp. Am Ende steht auch eine Bestpreisoption. Wer beispielsweise drei oder mehr Fahrten an einem Tag macht, dem wird nicht mehr als der Preis für eine 24-Stunden-Karte berechnet. Einen Zeitrahmen kann Eva Kreienkamp dafür nicht nennen. »Wir stehen als Branche im Mittelfeld der Innovationskraft«, räumt sie ein. Allerdings, denn in London ist mit der Oyster Card ein entsprechendes System seit 2003 in Betrieb.

Auch beim angekündigten Homeoffice-Ticket kann die BVG-Chefin keine substanziellen Fortschritte vermelden. Sie nennt »unterschiedliche Fragestellungen in Berlin und Brandenburg« und »andere Notwendigkeiten von Tarifgestaltung« als Hürden, hat aber bereits eine Vorstellung, wie dieses Ticket aussehen könnte. Zwölf Tageskarten, die innerhalb eines Monats verfahren werden können, seien eine Option. Doch vor der nächsten Aufsichtsratssitzung des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg im September seien keine Entscheidungen zu erwarten.

Wenn nur ein Bundesland im Spiel ist, können Entschlüsse offenbar schneller fallen. Peter Panitz, Geschäftsführer des Nahverkehrsservices Sachsen-Anhalt (Nasa) berichtet von »diversen Anstrengungen mit guten Ticketangeboten, Fahrgäste zurückzubringen«. Für das Bahnnetz des Bundeslandes ist bereits eine Zeitkarte eingeführt worden, die aus zehn einzelnen Tageskarten besteht. In Magdeburg können Abos mit kürzeren Laufzeiten als ein Jahr abgeschlossen werden. Im Regionalbahnverkehr zähle man inzwischen wieder über 70 Prozent so viele Fahrgäste wie vor Corona. Vor allem im ländlichen Raum war wegen des weggefallenen Schülerverkehrs teilweise nur noch ein Zehntel an Bord von Bahnen und Bussen.

»Die Schwierigkeit wird weniger sein, wieder auf 80 oder 90 Prozent der Fahrgäste zu kommen, sondern auf die 100 Prozent und darüber hinaus«, glaubt Panitz.

Der städtische Verkehrsbetrieb Cottbusverkehr wird inzwischen wieder von rund drei Viertel so vielen Menschen genutzt wie vor der Coronakrise, berichtet deren Sprecher Robert Fischer im Gespräch mit »nd«. Seit 2016 seien die Zahlen Jahr für Jahr gestiegen auf 11,4 Millionen im Jahr 2019. Im Jahr 2020 waren es dann nur noch knapp unter zehn Millionen. Zeitweise sei nach Ferienfahrplan gefahren worden, am Angebot sei allerdings ansonsten festgehalten worden.

In Cottbus wird weiter dringend nach Finanzquellen gesucht, um zusätzlich zu den sieben bereits bestellten neuen Straßenbahnen die Option für 13 weitere einzulösen. »Wir setzen ein bisschen Hoffnung darauf, dass nach der Wahl im September etwas aus den Mitteln des EU-Wiederaufbaufonds kommt«, sagt Fischer. Glücklicherweise habe man noch bis Ende 2022 Zeit, um die Bestellung auszulösen.

Nächstes Jahr will Cottbus beim Angebot nach vorn gehen. Eine Rufbuslinie sowie zwei weitere Buslinien, die im Abendverkehr statt der tagsüber eingesetzten Straßenbahnen fahren, sollen auf einen Sammeltaxidienst umgestellt werden. Per Handyapp oder auch telefonisch über die Leitstelle sollen die Minibusse in einem größeren Gebiet links und rechts der Linienstrecke angefordert werden können. Um die Verknüpfung mit dem restlichen Netz zu gewährleisten, wird an Umsteigeknoten aber weiterhin nach Fahrplan gefahren.

Untersucht wird in Cottbus auch, wo ein Ausbau des Straßenbahnnetzes sinnvoll sein kann. »Ende September, Anfang Oktober wollen wir mit der Studie fertig sein«, sagt Fischer. »Wir sind frohen Mutes, dass die Ergebnisse überzeugende Argumente für den Ausbau des Schienennetzes liefern.« Bereits 2010 ergab eine Untersuchung Potenzial für Neubaustrecken. Bis auf einen neuen Umsteigeknoten am Hauptbahnhof ist allerdings nichts realisiert worden. »Wir konnten auf die bisherige Untersuchung aufbauen - und mit dem Strukturwandel in der Stadt haben wir heute auch andere Voraussetzungen«, sagt Fischer. Von »jetzt auf gleich« werde das nichts, trotzdem sei er optimistisch.

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