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Da ist Musik drin

Geometrien des anderen Geschlechts: Das Kunstmuseum Stuttgart entdeckt die weibliche Seite der konkreten Kunst

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Männer! Immer wenn von konkreter Kunst die Rede ist, fallen dieselben Namen: Piet Mondrian und Theo van Doesburg, Kasimir Malewitsch oder Josef Albers. Den weiblichen Anteil an der Ästhetik von Kreis, Quadrat und Co. hat die Kunstgeschichte dagegen bis heute in die hintersten Ecken der Museumsdepots verbannt. Insofern ist das, was da in Stuttgart unternommen wird, weniger eine Revision, als vielmehr ein Aufschrei. Ein dringender Appell, endlich scheuklappenlos hinzuschauen und Künstlerinnen wie Sonia Delaunay, Marcelle Cahn und anderen auch international den Rang zuzuweisen, den sie verdient haben!

Stellvertretend für eine viel größere Zahl von Vertreterinnen der konkreten Kunst des 20. Jahrhunderts holt das Kunstmuseum Stuttgart zwölf vergessene Meisterinnen der rationalen Schönheit ins Rampenlicht. Nehmen wir Verena Loewensberg (1912-1986), die Züricher Avantgardistin und vielleicht schillerndste Wiederentdeckung der Präsentation. Auf ihren Leinwänden scheint kein Quadrat, kein Dreieck jemals still zu stehen. Jede Form vervielfältigt sich zur Serie, wächst oder schrumpft und verschwindet, um abgewandelt zurückzukehren wie in einer musikalischen Improvisation. Was kein zufälliger Zusammenhang ist: Da der Ertrag ihrer künstlerischen Arbeit anfangs kaum zum Leben reichte, betrieb Loewensberg jahrelang eine Plattenhandlung, die auf Jazz spezialisiert war.

Und nicht nur in Loewensbergs Malerei ist Musik drin. Auch die buntgeometrischen Arrangements einer Lily Greenham blinken so rhythmusfroh, dass die Betrachteraugen mittanzen.

Andere Künstlerinnen beziehen sich explizit auf die Herkunft der konkreten Bildsprache aus der modernen Architektur und dem Massendesign. In Vorwegnahme des Minimalismus setzen sie augenzwinkernd industriell vorgefertigte Materialien ein. So verschweißt Charlotte Posenenske stählerne Vierkantrohre zu Plastiken, die aussehen wie deplatzierte Lüftungsschächte.

Demgegenüber hat Sophie Taeuber-Arp den traditionell weiblichen Hoheitsbereich der Textilkunst mit Ecken und Kanten neu definiert. Genau diese Nähe zu den angewandten Disziplinen sollte sich aber leider als Bremsklotz für eine gleichberechtigte Rezeption in der Kunstgeschichte erweisen. Allen voran gilt das für Sonia Delaunay, die Frau des Kubisten Robert Delaunay, die unter anderem ein Luxuskaufhaus mit ihren geometrischen Stoffentwürfen versorgte.

»System und Intuition« lautet der Titel der Schau. Er beschreibt recht gut die widerstreitenden Kräfte, die in der konkreten Kunst zusammenklingen. Zwar artikuliert die Hinwendung zur reinen Struktur eine Abkehr von Erzählung und Emotion, doch nicht von Kreativität und Gestaltungslust. Im Gegenteil: Befreit vom Druck der Wiedererkennbarkeit, treiben Form und Farbe ein umso freieres Spiel der visuellen Kräfte. Die Regie dabei übernimmt die in der Schule meist ungeliebte Mathematik. Die Proportion der Bildelemente, die Krümmung der Kreise, die Winkel der Dreiecke - Bilder der konkreten Kunst werden wie technische Zeichnungen mit Lineal und Zirkel vorkomponiert.

Zu einer Zeit, als die Frauenquote im Ingenieurstudium noch gegen Null tendierte, eroberten sich die Künstlerinnen symbolisch eine der am härtesten verteidigten Männerdomänen der Welt. Vera Molnár, die einzige noch lebende Künstlerin in der Schau, beweist, wie tief sich das verschwitzte Altherrenklischee, MINT-Fächer seien nichts für Mädchen, in die Kulturszene hineingefressen hat. Lange schaute die Ausstellungswelt über die gebürtige Ungarin Molnár hinweg, obwohl sie zu den Begründer*innen der Computerkunst gehört. Nachdem sie 1968 in einem Forschungslaboratorium die ersten Großrechner gesehen hat, erlernt sie archaische Programmiersprachen wie Basic und Fortran und macht den Computer zum künstlerischen Assistenten. Bei all dem folgen ihre Zickzacklinien und Quadratfaltungen stets dem Prinzip, die mathematische Akkuratesse durch Störfaktoren zu unterlaufen. »1 Prozent Unordnung«, sagt Molnár, gehöre in ihren Bildern dazu.

Gewiss hätten noch viele weitere Künstlerinnen, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion, eine Beteiligung an der Schau verdient. Gleichwohl traf Kuratorin Eva-Marina Froitzheim mit der Beschränkung auf Einzelpositionen die richtige Entscheidung. Hierdurch erschließen sich die Werkbiografien zugleich als kunstsoziologische Fallbeispiele. Denn der Wille zur Kunst ist mehr als die individuelle Entscheidung einer Künstlerin. Die abwechslungsreiche Parade im Stuttgarter Glaskubus enthüllt, dank welcher Netzwerke und welcher Lebensstrategien es Frauen gelang, sich auf einem testosterongelenkten Kunstmarkt zu behaupten. Sie organisierten ihre Ausstellungen selbst oder schlossen sich Kollektiven wie der Pariser Gruppe »Abstraction-Création« an, um bei den Seilschaften der musealen Männermacht Gehör zu finden. Am Ende waren es freilich oft die Galeristinnen, die sich vom Programm der männlichen Kollegen abheben wollten und deshalb den Geometrien des anderen Geschlechts ein Forum boten. Auch Molnárs zuletzt gewachsene Bekanntheit ist das Ergebnis eines entsprechenden Kontakts. Es war die Kunsthändlerin Linde Hollinger, die zu der Malerin gesagt hat: »Ich bringe dich dahin, wo du hingehörst.« Genau dort ist Vera Molnár jetzt, mit 97 Jahren, angekommen.

»System und Intuition: Konkrete Künstlerinnen«, bis 17. Oktober, Kunstmuseum Stuttgart, Kleiner Schlossplatz 13, Stuttgart.

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