Viel Verantwortung, wenig Geld

Betreuer müssen den Willen von Menschen mit Einschränkungen berücksichtigen. Das bringt viel unbezahlte Zusatzarbeit

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 9 Min.

Saskia Gerecke sitzt am Steuer ihres Gebrauchtwagens. Vor fünf Jahren hat sich die Sozialpädagogin als gesetzlich bestellte Betreuerin selbstständig gemacht. »Wir fahren zu meiner Klientin Carolina«, sagt sie und biegt in eine ruhige Wohnsiedlung ein. »Sie hat eine geistige Einschränkung, aber auch körperliche Handicaps. Sie lebt in einer Einrichtung und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen.« Gerecke wurde vom Amtsgericht als Betreuerin der jungen Frau bestellt. Carolina wartet schon im Flur ihrer Wohngemeinschaft. Sie hat eine Plüschkatze im Arm, die sie Lara nennt. »Miau, miau«, grüßt sie fröhlich. »Lass uns in die Küche gehen.«

Was passiert, wenn ein Mensch in Deutschland seine Angelegenheiten nicht selber regeln kann? Personen, die eine solche Notsituation beobachten - ob Freundin, Angehöriger, Hausarzt, Nachbarin oder auch Polizisten - können bei der örtlichen Betreuungsbehörde eine Bedarfsprüfung beantragen. Ein Betreuungsrichter des Amtsgerichts entscheidet letztlich über die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung. Dabei geht es vor allem um finanzielle Angelegenheiten und den Umgang mit Behörden. Aber auch der persönliche Kontakt der Betreuer zu den ihnen anvertrauten Personen ist wichtig. Carolina bekommt mindestens einmal im Jahr Besuch von Saskia Gerecke. »Seit 2015 bin ich hier im Haus«, erzählt Carolina. »Dann habe ich eine Betreuerin bekommen. Am Anfang war es schon etwas komisch, Saskia an meiner Seite zu haben. Da habe ich meine Katze gefragt, was sie davon hält. Sie hat geantwortet: ›Probier es doch einfach mal aus. Das wird bestimmt funktionieren.‹«

Bis zu Carolinas Volljährigkeit kümmerten sich ihre Eltern um alles. »Dann wollten sie das abgeben«, erklärt Saskia Gerecke. »Aber Carolina schafft das nicht ganz allein.«

Die Betreuerin kümmert sich vor allem um die Finanzen der jungen Frau. »Etwas Unterstützung brauche ich ja«, gibt Carolina zu. Eine der Aufgaben von Saskia Gerecke ist es, sicherzustellen, dass Carolina alle ihr zustehenden Zahlungen der Sozialträger bekommt. Aber sie schaut auch, dass die junge Frau ihr Geld nicht gleich am Monatsanfang für Süßigkeiten ausgibt. Carolina findet das gut. »Richtig geschimpft hat sie noch nie.«

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Mehr Respekt und Wertschätzung

Das heute geltende Betreuungsrecht ist 1992 in Kraft getreten. Zuvor gab es das Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht. Damals übernahmen Mitarbeiterinnen von Wohnheimen häufig die gesetzliche Betreuung für mehrere Bewohner. Das musste geändert werden, erklärt die erfahrene Betreuerin Gundula Löhr: »Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass die Menschen, die in einer Institution arbeiten, keine gesetzliche Betreuung für die Bewohnerinnen übernehmen dürfen, damit es nicht zu Interessenskonflikten kommt.«

Löhr sitzt hinter ihrem Schreibtisch in den Räumen eines Vereins für Betreuungen. Dessen Geschäftsführer Wolfgang David kann sich noch an die alte Vormundschaftsregelung erinnern. »Der Begriff der Vormundschaft ist immer noch sehr präsent in der Gesellschaft«, sagt der Pädagoge. »Wenn eine Betreuung angeregt wird oder wenn der Richter eingeschaltet wird, sagen viele Menschen: Ich möchte nicht entmündigt werden. Da gibt es große Vorbehalte. Die wenigsten wissen über die Gesetzesänderung Bescheid.«

Tatsächlich waren die Rechte der Menschen, die unter Vormundschaft gestellt wurden, eingeschränkt. Das ist heute anders. Erwachsene, die rechtlich betreut werden, sind nicht entmündigt und verlieren keine Rechte, versichert Gundula Löhr.

Insbesondere seit der Bundestag 2009 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert hat, wird genau kontrolliert, wie die Gesellschaft Menschen mit Einschränkungen behandelt. Die gesetzliche Betreuung muss die Selbstbestimmung der Betroffenen sicherstellen. Auch Menschen, die in stationären Einrichtungen wohnen, sollen eigenständig Entscheidungen über ihr Leben treffen können.

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Und es stehen weitere Veränderungen bevor, die das Recht auf Selbstbestimmung stärken sollen: Im März dieses Jahres hat der Bundestag eine Novelle des Betreuungsrechts verabschiedet. Sie tritt aber erst zum 1. Januar 2023 in Kraft. »Bei Menschen, die mit schwerer Intelligenzminderung in Einrichtungen leben, ist es natürlich schwierig, Selbstbestimmung umzusetzen«, räumt Gundula Löhr ein. »Da muss man dann mit ›unterstützter Entscheidungsfindung‹, so lautet der Fachbegriff, versuchen herauszufinden: Was möchten die Menschen? Sie können vielleicht entscheiden, wohin sie mit ihrem Geld in Urlaub fahren wollen. Man kann ihnen dafür Bilder zeigen mit einem Meer oder mit Tieren auf einem Bauernhof. Dann können sie schon sagen, was ihnen lieber ist. Es geht um Respekt und Wertschätzung.«

Bis vor kurzem flossen Sozialhilfe und Gelder der Pflegeversicherung meist direkt an die zuständigen Ämter, die dann die Kosten mit den Einrichtungen verrechnet haben. Doch seit das Bundesteilhabegesetz vorschreibt, dass alle Menschen ihr Geld auf eigene Girokonten bekommen sollen, müssen sich gesetzliche Betreuerinnen viel mehr um Finanzfragen kümmern. »Jetzt stellen wir viel mehr Anträge: auf Eingliederungshilfe, auf die Grundsicherung«, sagt Gundula Löhr. »Und ich muss das Konto verwalten. Ich bekomme alle Rechnungen, muss überweisen, prüfen und dem Amtsgericht eine Rechnungslegung vorlegen. Ich habe also deutlich mehr Arbeit und Verantwortung als vorher. Diesen Mehraufwand hat der Gesetzgeber bisher nicht in den Blick genommen. Er wird nicht vergütet.«

Früher bekamen betreute Personen ein Taschengeld. Heute müssen die Betreuerinnen die Geldbewegungen auf den Konten ihrer Schützlinge im Auge behalten. Es geht um Renten, Wohngeld oder Versicherungszahlungen, sagt Wolfgang David: »Das ist hoch kompliziert. Der Betreuer muss Fehler der verschiedenen Institutionen bemerken und dann auch dagegen vorgehen.«

Wachsende Zahl Betreuter

Nachdem Saskia Gerecke sich von Carolina verabschiedet hat, geht sie ein Stockwerk tiefer in eine Wohngemeinschaft für ältere Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen. Eine Pflegerin hilft gerade Frau L. in ihren Rollstuhl. »Kommen sie ruhig rein«, sagt die junge Frau, während sie routiniert die Fußstützen des Stuhls zurechtbiegt. Währenddessen teilt Frau L. ihrer Betreuerin mit, dass ihr das Mittagessen heute nicht geschmeckt hat. Sie ist schlecht gelaunt. Möchte wissen, wie viel Geld noch auf ihrem Girokonto ist. Saskia Gerecke nennt eine aufgerundete Summe. Da ist Frau L. plötzlich sehr zufrieden: »Das reicht ja bis ins nächste Jahr.«

Seit der Gesetzesänderung 1992 hat sich die Zahl der gesetzlich betreuten Personen in Deutschland verdoppelt. Zur Zeit spricht der Verband der Berufsbetreuer von rund 1,3 Millionen Menschen, die von Angehörigen, Ehrenamtlichen oder Berufsbetreuerinnen unterstützt werden. Doch die Betreuer haben nicht mehr dieselben Befugnisse wie unter dem Vormundschaftsrecht. Laut Bundesteilhabegesetz soll niemand mehr über den Kopf von Menschen mit Einschränkungen hinweg entscheiden. »In der Regel besprechen wir Dinge, die getan werden sollen«, erläutert Wolfgang David. »Das geht natürlich nur, wenn sich die Person noch äußern kann. Wenn das nicht möglich ist, orientieren wir uns am mutmaßlichen Willen der Person.«

Bei gesundheitlichen Fragen ist es sehr hilfreich, wenn die Person eine Patientenverfügung ausgestellt hat, als sie noch eigenständig entscheiden konnte. Häufig aber liegt diese nicht vor. »Dann müssen wir recherchieren«, sagt Wolfgang David: »Wir fragen im Bekanntenkreis, bei den Angehörigen, in der Nachbarschaft.«

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Für die Betreuerinnen selbst gab es 14 Jahre lang so gut wie keine Vergütungserhöhung, trotz zunehmender Belastung. Das bringt die rund 800 Betreuungsvereine in Deutschland in existenzielle Not, viele mussten bereits Insolvenz anmelden. Zudem gibt es nicht mehr genug Menschen, die diese verantwortungsvolle, aber schlecht bezahlte Arbeit übernehmen wollen. Im Jahr 2019 gab es zumindest eine kleine Anpassung der Vergütung. »Aber das hat nicht gereicht«, klagt Löhr. »Eigentlich ist es so, dass die Betreuungsführung für die Betreuungsvereine heute ein Minusgeschäft ist. Es sei denn, sie werden zum Beispiel von der AWO oder dem Paritätischen gesponsert.« Auch Kirchensteuern fließen in die Betreuungsarbeit: Caritas und das Diakonische Werk nutzen eigene Gelder, um ihre Betreuungsvereine finanziell abzusichern.

Vereine in Not

In den vergangenen Jahren mussten zehn Prozent der Vereine schließen. Das Inkrafttreten der jüngsten Gesetzesänderungen wird das Problem weiter verschärfen. Außerdem wächst der Bedarf, denn die Großfamilie, deren Angehörige zusammenleben und sich gegenseitig unterstützen, ist heute eher die Ausnahme. Zudem werden die Menschen älter und brauchen länger Beistand. Immer mehr leiden unter psychischen Erkrankungen.

Für die Betreuung eines mittellosen Menschen, der in einer Einrichtung wohnt, bekommt Gundula Löhr 102 Euro monatlich. »Mit dieser Pauschale komme ich hinten und vorn nicht hin«, sagt sie. Es sei schon knapp, wenn sie monatlich zwei Stunden für die Person Rechnungen prüfe und überweise. Aber: »Alle Behördenangelegenheiten, mit dem Arbeitgeber, mit anderen Leistungsträgern, eine Freizeitbegleitung, Verträge, die neu abzuschließen sind oder gekündigt werden müssen, all das ist mit der Summe abgegolten.«

Oft übernehmen Familienangehörige die Betreuung. Aber wenn der Betroffene in einer Einrichtung lebt, regen die Mitarbeiterinnen ab dem 18. Geburtstag eine gesetzliche Betreuung an. So war es auch im Fall von Benjamin. Er ist 19 Jahre und Autist. Seine Mutter ist heute nur noch für die Gesundheitsversorgung zuständig. Saskia Gerecke kümmert sich vor allem um seine Finanzen und die Kommunikation mit Behörden.

Benjamin spielt mehrere Musikinstrumente. Aber Behördengänge traut er sich nicht allein zu. »Diese Amtssachen, diese schwierigen Zettel, die sind manchmal echt schwer zu verdauen«, sagt er. Seine Mutter sagt allerdings, von der gesetzlichen Betreuung hätten sie und ihr Mann sich zunächst »ziemlich überrannt« gefühlt. »Uns wurden sämtliche Rechte abgesprochen.« Benjamin hat das auch so erlebt. »Es ging viel zu schnell.« Dabei brauche er Zeit, um Veränderungen zu verstehen und sich auf sie einzulassen, erklärt die Mutter. »18 Jahre lang waren wir gut für alles, und von heute auf morgen kriegt man vom Gericht abgesprochen, dass man fähig ist, sein Kind weiter zu betreuen«, kritisiert sie. »Aber dann durften wir Frau Gerecke kennenlernen, und gemeinsam haben wir eine Lösung gefunden.«

Heute kooperieren Benjamins Mutter und die Betreuerin eng miteinander. Mit der Zeit soll Benjamin auch mehr Verantwortung für sich übernehmen, meint Gerecke: »Bei ihm könnte ich mir vorstellen, dass er seinen Papierkram alleine in den Griff kriegt.«

Und was treibt Menschen an, die als gesetzliche Betreuer arbeiten? »Es geht darum, den Leuten ihre Rechte zu erstreiten«, sagt Wolfgang David. »Wir helfen Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Ich glaube, man braucht einen gewissen Gerechtigkeitssinn.« Löhr betont, allzu harmoniesüchtig dürfe man in ihrem Job nicht sein - im Gegenteil. Die gesetzliche Betreuung brauche Menschen, die streitbar sind, die sich trauen, auch mal in Konfrontation mit Ämtern zu gehen. »Wir müssen alternative, kreative Lösungen finden und auch mal was durchboxen«, sagt die Betreuerin. »Ich überlege auch gerne, was ich noch tun kann, wenn der Sozialhilfeträger mal wieder einen Antrag ablehnt. Dann lege ich Widerspruch ein, und zur Not klage ich auch. So was macht mir Spaß.«

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