Gegen die Sterilisierung des Lebens

»Der Erreger« zirkuliert in der linken Subkultur. Trotz mancher Fehleinschätzungen lohnt sich die Lektüre

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.

Im August vergangenen Jahres sorgte ein Bild für Diskussionen: Es zeigt Menschen, die sich in Kleinstfahrzeugen mit Glaskapsel ohne Kontakt zu ihren ebenfalls in einer Kapsel befindlichen Mitmenschen fortbewegen. »Leben im Jahr 2022« wurde es kommentiert. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um ein Bild des italienischen Comic-Zeichners Walter Molino aus dem Jahr 1962 handelt, das isolierte Monaden im kapitalistischen Alltag zeigt. Dieses Motiv haben die Herausgeber*innen von »Der Erreger« zum Titelblatt ihrer 94-seitigen Broschüre mit den Untertitel »Texte gegen die Sterilisierung des Lebens« gewählt. In knapp 30 Aufsätzen werden die Corona-Maßnahmen und ihre Auswirkungen kritisch beschrieben, mit Skepsis und Ablehnung wird auf das »Virus als Staatsräson« geblickt. Ein wiederkehrender Gedanke ist, dass schon in der spätkapitalistischen Verfassung der Menschen etwas angelegt gewesen sei, dass sie die Maßnahmen und die damit einhergehende Entsolidarisierung noch begrüßen - oder im psychoanalytischen Sinne »genießen« - haben lasse.

»Der Erreger« versteht sich als radikale Gegenöffentlichkeit, das Heft zirkuliert klandestin und ohne Internetpräsenz. Die Autor*innen schlagen einen Bogen von der Corona- zur Klima- und Umweltkrise bis zu den verschiedenen medialen Moraldebatten der vergangenen Monate. »In Zeiten des pandemischen Ausnahmezustands ist der Körper tatsächlich zu dem menschheitsgefährdenden Ding geworden, zu dem ihn die Klimaschützer*innen schon lange erklären«, schreibt Leo Krovich in dem Text »Im Würgegriff des sanften Zwangs«. Bessere Beiträge ziehen solche Verbindungen treffend, andere weniger. Wenn beispielsweise der langjährige, inzwischen abtrünnige Autor der antideutschen Zeitschrift »Bahamas« Horst Pankow die Klimabewegung als »apokalyptische Reiterinnen« bezeichnet, könnte das ein polemischer Einstieg in eine Debatte über die Sehnsucht am Weltuntergang in Teilen der Umweltbewegung sein. Doch dann echauffiert sich der Autor vor allem bloß über die Aktivist*innen von »Fridays for Future«.

Weit treffender sind die Texte, wo auf die Veränderungen der Subjektivität aufmerksam gemacht wird, die vom digitalen Kapitalismus benötigt werden. Das sollte aber nicht zur Kulturkritik verführen, wovon manche der Texte im »Erreger« durchaus nicht frei sind. Vielen Beiträgen ist in Inhalt und Stil anzumerken, dass manche der Autor*innen von den sogenannten Antideutschen kommen. Obzwar mit Ideologiekritik und den Theorien der Frankfurter Schule angetreten, hat sich dieses Milieu sehr verändert - seit man vor knapp mehr als 30 Jahren mit der »Wiedervereinigung« das »Vierte Reich« heraufziehen sah. Manche sind inzwischen weit rechts gelandet und haben ihre publizistische Heimat auf Blogs wie »Achse des Guten« gefunden. Die »Bahamas« preist in ihrer aktuellen Ausgabe über mehrere Seiten die Springer-Presse, die Corona-Krise wird dort aber nur am Rande erwähnt. Das Schweigen über den pandemischen Ausnahmezustand wurde der Zeitschrift in einem Offenen Brief vorgeworfen. Die Verwerfungen im ideologiekritischen Umfeld sind teils heftig - auch und insbesondere seit Corona, wie »Der Erreger« zeigt.

Auseinandersetzungen gab es schon zuvor, die alten Konfliktlinien kehren teils wieder: Vor knapp 20 Jahren kam es zum Krach zwischen der »Bahamas« und der Linksabweichung »Antideutsche Kommunisten«. Letztere publizierten seit 2004 im »Magazin«, das 2010 eingestellt wurde. Das weiterbestehende Blog magazinredaktion.tk wurde nach dem Corona-Lockdown zum Forum von Maßnahmenkritiker*innen, die mit Verweis auf die Schriften der Frankfurter Schule gegen die »körperlose Gesellschaft« und »paranoide Charaktermasken« polemisiert. »Der Erreger« hat einen Querschnitt dieser Beiträge dokumentiert. Sie sind lesenswert, selbst wenn man mit den politischen Prämissen der Autor*innen nicht übereinstimmt. Schließlich regen die Texte zu Kritik und Widerspruch an. Und das in Zeiten, in denen in der Linken die Kritikfähigkeit nicht sehr ausgeprägt ist und Etiketten wie »Querdenker*innen« und »Coronaleugner*innen« äußerst freigiebig und gedankenlos verteilt werden.

»Der Erreger« kann für 5 Euro bestellt werden über dererreger@posteo.de

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal