Winfried Junge: Der Menschenfilmer

Der Regisseur Winfried Junge wird 90 Jahre alt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Zum Glück hat Winfried Junge mit seiner Frau Barbara zur Seite bis heute etwas unbeirrbar Renitentes, was allzu klare Erwartungen an die Ergebnisse seines Tuns betrifft.
Zum Glück hat Winfried Junge mit seiner Frau Barbara zur Seite bis heute etwas unbeirrbar Renitentes, was allzu klare Erwartungen an die Ergebnisse seines Tuns betrifft.

Die Kinder von Golzow sind, so sie nicht gestorben sind, längst alte Leute. Zu ihrer Einschulung in Golzow am 1. September 1961 ist Winfried Junge mit seiner Kamera dabei. Je nach Charakter blicken die sechsjährigen Jungen und Mädchen forsch oder schüchtern in die Kamera. Die Zukunft liegt vor ihnen als ein unbekanntes Land. Offenbar macht es ihnen keine Angst. Sie haben jenes Zutrauen in die Ordnung der Welt, die ihnen gleich am ersten Tag in Gestalt des Buchstaben A entgegentritt. Ein langer Weg bis zum Z – und dann immer weiter. Das war der Bildungsanspruch der DDR. Aber die Kinder im Oderbruch kommen meist aus Bauern- oder Handwerkerfamilien, da hält man sich an handfeste Dinge.

Und Winfried Junge? Ist inmitten der Erstklässler selbst erst 26 Jahre alt und ahnt wohl kaum, dass er heute als Neunzigjähriger vor lauter Siebzigjährigen steht – den Kindern von Golzow, die er in 19 Film begleitete, bis sie 50 Jahre alt waren. Eine derartige filmische Langzeitbeobachtung über die Kinder einer Schulklasse ist weltweit einmalig. Das US-Fachblatt für Film »Variety« sprach dann auch von einem »einzigartigen Meilenstein in der Filmgeschichte«. Was für ein Durchhaltevermögen aller Beteiligten! Und was für ein einzigartiger Beitrag zu jenem filmischen Gedächtnis, in dem die DDR ihren besonderen Platz gefunden hat. Authentisch gefilmtes Leben, da ist nichts (oder fast nichts) inszeniert, da sprechen durchschnittliche Kinder über sich. Ein Leben, das das Oderbruch für sie bereithält, unter besonderer Berücksichtigung des Sozialismus, wie ihn die DDR unmittelbar nach dem Mauerbau plant. Da ist tatsächlich ein erstaunlich selbstverständliches Selbstbewusstsein, ein schlichter Stolz auf das, was man bereits erreicht hat.

In dem Film »Wenn man vierzehn ist« von 1969, als die Golzow-Kinder die Jugendweihe erhalten, die ersten von ihnen die Schule verlassen und zu arbeiten beginnen, sinniert Junge: »Wie sehe ich eigentlich aus und wer bin ich?« Man könnte sich nun lange über die immer akut gebliebenen Finanzierungsfragen des Filmprojekts verbreiten, auch über den Wechsel vom Schwarz-Weiß der Anfangsjahre zum Farbfilm. Aber die Orwo-Color-Filme aus der Filmfabrik Wolfen hatten ihre Tücken, vertrugen lange Zeit nur »reines« Licht (also nur Kunst- oder nur Naturlicht), bei »Mischlicht« entstand sofort ein Blaustich.

Allerdings, Uwe Kants kommentierende Texte hatten mitunter etwas allzu Salbungsvolles, liegen auf den Bildern fast wie Schlagsahne, aber diesen stilisierten Ton kontrastiert Junge selbst in seiner mal jovialen, mal pointiert zuspitzenden Art, unerwartet Fragen einzuwerfen. Manipuliert wird hier niemand, man hat immer das sichere Gefühl, dass diese Filme den ganz normalen Alltag in Golzow zeigen. Darin liegt Junges bleibender Verdienst.

Dies ist Bild für Bild, Film für Film, ein biografischer Abriss über das Leben in der DDR jenseits der großen Städte und damit auch jenseits der hochfliegenden Pläne. Hier wird man Melker oder Geflügelzüchterin in der LPG, vielleicht auch Mechaniker, der Traktoren repariert. Nur einige wenige verlassen Golzow, machen Abitur und studieren. Aber Junges Herz schlägt für jene, die mit den Händen arbeiten, ihnen schaut er viele Jahre lang fasziniert zu und spricht mit ihnen.

Sozialistische Musterbiografien – dieser Gedanke geisterte wohl anfangs in den Köpfen derer, die sich von den »Kindern von Golzow« Zeugen im weltanschaulichen Wettstreit mit dem Westen erhofften. Aber dann war es doch wieder nur das einfache Leben mit den immer gleichen Hoffnungen und Enttäuschungen.

Die »Kinder von Golzow« haben längst den Rang wertvoller Zeitzeugnisse erlangt. Hier spricht die Alltagsgeschichte selbst durch die erwachsen gewordenen einstigen Kinder, die schließlich mit Mitte Dreißig die Wende und das Ende des altgewohnten Lebens trifft. Chancen für Neues? Das auch, aber auch viel Melancholie, bei einigen sogar eine unüberwindbare Frustration. Den Golzow-Filmen gelingt es von Anfang an, immer den Einzelnen und die Gruppe zugleich im Blick zu behalten. Junge zeigt uns Individuen jenseits des Individualismus, er erzählt Leben, meidet dabei jede ideologische Schablone, jedes Ressentiment.

Das macht – darüber wird allzu wenig gesprochen – die Poesie dieser Filme aus. Zugegeben, diese ist durch und durch spröde, so spröde, wie es die DDR nun mal war, mit einzelnen Momenten eines heute befremdlich klingenden Feiertagstons. Da klingt der von Brechts »Kinderhymne« geborgte Titel eines der Filme wie eine Selbstermutigung: »Anmut sparet nicht noch Mühe«.

Im Westen mochte man Junges »Kinder von Golzow« wenig, auch nach der Wende hatten sie einen schweren Stand bei der Kritik. Vielleicht, weil sie den herrschenden Klischees über das Leben in der DDR so diametral entgegenstanden. Hier sind weder Helden des sozialistischen Aufbaus am Werk noch antisozialistische Dissidenten, hier spricht man über Tagesfragen und das überaus offen und kritisch. Nicht anders als heute, nur eben vielleicht mit einem stärkeren Bewusstsein, sich in die eigenen öffentlichen Dinge einzumischen?

Als 1983 die »Lebensläufe«, neun Einzelporträts der Golzower, auch im Westfernsehen laufen, ist das Desinteresse an Ostbiografien ebenso groß, wie es das auch später bleibt. Die »Aachener Volkszeitung« klagte am 25.6.1983: »Wer mag nur auf den Gedanken verfallen sein, uns an zwei schönen Sommerabenden viereinhalb Stunden lang mit DDR-Tristesse zu füttern?« Mehr Nichtachtung geht kaum – und warum der Osten 1990 dennoch die schnelle Wiedervereinigung mit einem ihn derart gering schätzenden Westen wählte, wird so gesehen immer ein Geheimnis bleiben.

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Auch in den Neunzigerjahren herrschten höhnische Töne vor, die um eher linke Medien keinen Bogen machten. Der »Freitag« schrieb am 26.2.1999: »In fast schon seniler Weise, bar jeder Idee, filmt Junge als Übervater seiner Helden unablässig in ihren Leben herum, selbst wenn sie es nicht mehr wollen.« Letzteres stimmt natürlich nicht, wer nicht mehr dabei sein wollte, wurde auch nicht gefilmt.

Seltsam diese verbreitete Abneigung, fast schon Allergie gegen den hier dokumentierten Ostalltag, der doch in kein Schema passte und allein schon deshalb eine unerschöpfliche Fundgrube der Geschichtsschreibung sein sollte. Viel Anschauung und wenig Abstraktion – hielt man das etwa für unerlaubt unterreflektiert? Die »Taz« jedenfalls erklärte, Junges »berlinernden Bettina-Wegner-Ton« nicht länger zu ertragen. Immerhin schreibt Heinz Kesten am 16.2. 1993 im »Tagesspiegel«: »Ein historisches Dokument wie dieses ist nicht am ›Marktwert‹ zu messen.« Und Jan Ross bemerkt zur gleichen Zeit in der »FAZ« eine »gemeinsame Verunsicherung« von Beobachter und Beobachteten, erkennt darin einen Vorzug.

Zum Glück hat Winfried Junge mit seiner Frau Barbara zur Seite bis heute etwas unbeirrbar Renitentes, was allzu klare Erwartungen an die Ergebnisse seines Tuns betrifft. Das Projekt der »Kinder von Golzow«, wie er es auffasste, war immer das eines Experiments mit offenem Ausgang. Darum bleibt es ein Abenteuer, in dessen Mitte man sich als Zuschauer wiederfindet, diesen Weg der Kinder von Golzow mitzugehen, bis sie selbst sich nur noch daran erinnern können, einmal Kind, einmal Jugendlicher gewesen zu sein. Welch filmischer Schatz, diese gelebte Zeit auch heute noch mit ihnen teilen zu dürfen.

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