Spätschäden auf der Spur

Mediziner haben eine erste Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Long-Covid erstellt

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Medizinische Leitlinien sind ein Produkt der Verständigung unter Ärzten und ihren Fachverbänden, im besten Fall unter Einbeziehung vorhandener Studien und Forschungsergebnisse. Die Leitlinien enthalten Vorschläge für die je nach Krankheit am besten geeignete Therapie und Diagnostik. Jetzt haben Vertreter von 21 medizinischen Fachverbänden eine erste Leitlinie zum Thema Post- und Long-Covid erarbeitet, die am Mittwoch vorgestellt wurde. Ein solches Dokument wird dringend benötigt, denn die Vielfalt und Schwere der Symptome, an denen Menschen noch Wochen nach der eigentlichen Erkrankung an Covid-19 leiden, ist immens. Long-Covid bezeichnet hier einen Krankheitszustand, der nach Abklingen der eigentlichen Infektion noch bis zu 12 Wochen andauert. Post-Covid ist dann gemeint, wenn nach 12 Wochen und länger Symptome auftreten, darunter solche, die aus der Behandlung resultieren. Auch die Verschlechterung einer vorher schon bestehenden Grunderkrankung gehört dazu.

Da erst wenige Studien zu diesen Fragen vorliegen, haben eine ganze Reihe von Fachverbänden ihren Wissensstand unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) zusammengetragen. Entstehen konnte auf dieser Basis in wenigen Monaten ein »klinisch-praktischer Leitfaden«, eine sogenannte S-1-Leitlinie, die den informellen Konsens einer Expertengruppe darstellt. Methodisch höherwertige Leitlinien gibt es dann, wenn der Konsens auch formal erzielt und systematisch nach Studien und Forschungsergebnissen gesucht wurde (bis zu nationalen S-3-Leitlinien). Für Long- und Post-Covid gibt es noch keine S2- oder S3-Leitlinien, weil noch zu wenig Studien vorliegen. Selbst, wenn es diese geben würde, wäre eine längere Bewertungszeit nötig.

Das Dilemma der jetzigen Situation erläutert Michael Pfeifer von der DGP an einem Beispiel: »Lange Rekonvaleszenzzeiten sind von anderen Virusinfektionen bekannt. Jetzt kommen frühere Covid-19-Patienten in die Praxen, mit Symptomen, deren Pathophysiologie teils noch nicht verstanden ist.« Es gibt also eine krankhafte Veränderung, aber man weiß noch nicht, wo man am besten therapeutisch ansetzt. Zu den Symptomen gehört etwa Fatigue, eine Art chronischer Erschöpfung, die auch nach anderen Infektionen oder bei Krebspatienten auftritt. Häufig sind außerdem Kurzatmigkeit, körperliche Schwäche bis hin zur Gebrechlichkeit oder Schlafstörungen. Diese und mehr Symptome treten auf, obwohl Sars-CoV-2 nicht mehr im Körper nachweisbar ist.

Den Fachverbänden ist klar, dass die Mediziner vor Ort, sowohl Haus- als auch Fachärzte, bei der Betreuung der Covid-19-Überlebenden Hilfe brauchen. Der Bedarf geht bis dahin, Spezialambulanzen einzurichten, Netzwerke aufzubauen oder Reha-Maßnahmen systematisch möglich und auch abrechenbar zu machen. Hinzu komme, so Pfeifer, die wissenschaftliche Begleitung.

Die besondere Situation mit den medizinischen Spätfolgen von Covid-19 spiegelt sich in der Leitlinie auch insofern wider, dass in jedem inhaltlichen Kapitel, von infektiologischen über allgemeinmedizinische Aspekte bis hin zu Fatigue oder Schmerzen, jeweils ein Abschnitt die offenen Fragen des Gebietes zusammenfasst.

Bei Fatigue geht es dort etwa um die optimale Behandlungsform, oft auch darum, wie eindeutig die jeweiligen Symptome der Sars-CoV-2-Infektion zugeordnet werden können. Insgesamt haben 21 Fachgesellschaften ihre Zustimmung zu der Leitlinie gegeben, die im Fall neuer Erkenntnisse schnell aktualisiert werden soll. Geplant ist auch eine Patientenfassung, die alle Empfehlungen noch einmal gut verständlich und bebildert enthalten soll.

Die vielfältige Symptomatik und den hohen Behandlungsbedarf verdeutlicht Frank Elsholz, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Er leitet die pneumologische Früh-Reha einer Lungenklinik in Schleswig-Holstein. Covid-19 habe am häufigsten die Lungenfunktion beeinträchtigt, aber die Patienten litten nach langem Aufenthalt auf der Intensivstation, häufig beatmet, unter starkem Muskelabbau. Das heißt: »Gehen und Stehen, Halten und Greifen sind nicht immer möglich.« Hinzu kämen Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Als Folge einer Beatmung können auch Schluck- und Sprechfähigkeit eingeschränkt sein. Unter dem Strich bleibt ein hohes Arbeitspensum für Ärzte und Therapeuten, ebenso nötig sei eine mobilisierende Pflege.

Oft bleiben jedoch Luftnot unter Belastung oder ein Mangel an Muskelkraft länger bestehen. Nach Wochen bis Monaten in der Früh-Reha muss dann noch weiter behandelt werden, teils stationär, aber auch ambulant, wenn die Patienten endlich wieder zu Hause sein wollen.

Eine britische Patientenstichprobe ergab, dass bei über zehn Prozent der Covid-19-Erkrankten mit den genannten Spätfolgen zu rechnen ist. Für Deutschland wären das mehrere Hunderttausend Personen. Präzise erfasst werden diese Betroffenen, etwa nach einer Krankenhausbehandlung, bislang noch nicht. Insofern ist auch in diesem Fall eine endgültige Bewertung erst im Rückblick möglich.

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