Kein Grund zur Panik

Staatsdefizit wuchs im ersten Halbjahr auf 4,7 Prozent der Wirtschaftsleistung

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 3 Min.

Christian Lindner möchte gerne Bundesfinanzminister werden, verriet er am Wochenende der »Bild«-Zeitung. »Wir haben enorme Schulden. Wir haben bereits Inflationsrisiken. Wir haben künstlich niedrige Zinsen«, malte der FDP-Chef in altbekannter, neoliberaler Manier den fiskalischen Untergang an die Wand. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes dürfe daher nicht aufgeweicht werden. »Wir müssen zurück zu soliden Finanzen.«

Die Zahlen, die das Statistische Bundesamt am Dienstag veröffentlichte, erscheinen daher zunächst wie Wasser auf die Mühlen von Lindners Argumentation: Bund, Länder und Gemeinden gaben wegen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 80,9 Milliarden Euro mehr aus, als sie einnahmen.

Gemessen an der Wirtschaftsleistung betrug das Staatsdefizit 4,7 Prozent. Laut den amtlichen Statistiker*innen aus Wiesbaden ist dies das zweithöchste Defizit in einer ersten Jahreshälfte – und es könnte noch weiter ansteigen. Laut der Bundesbank könnte es am Ende des Jahres mehr als 5 Prozent betragen, nach 4,5 Prozent im Vorjahr.

Doch schaut man nicht allein auf diese Zahlen, sondern hört auch, was Ökonom*innen sagen, dann relativiert sich das Bild ganz schnell wieder. So gibt es für den Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, »keinen Grund zur Schuldenpanik«. Denn die Zinsausgaben des Staates sind trotz des gestiegenen Schuldenberges um 10,7 Prozent gesunken.

»Für das Gesamtjahr ist sogar damit zu rechnen, dass der deutsche Staat gemessen am Bruttoinlandsprodukt so wenig für den Schuldendienst ausgibt wie noch nie seit Beginn der gesamtdeutschen statistischen Erfassung«, schätzt Dullien. Und auch sein Kollege vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, rechnete am Dienstagmorgen im Deutschlandfunk Nova vor: Mit rund zehn Milliarden Euro zahlt Deutschland nur 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung jedes Jahr an Zinsen.

So relativiert auch die Bundesbank in ihrem Monatsbericht den hiesigen Schuldenberg: Mit einer Höhe von 71,1 Prozent der Wirtschaftsleistung am Ende des ersten Quartals sei der Schuldenstand »sehr deutlich unter dem Spitzenwert von 82,5 Prozent, der 2010 im Zuge der letzten Krise erreicht wurde«. Auch im internationalen Vergleich sei die Schuldenquote relativ niedrig. So lag diese Kennzahl im Euroraum Ende vergangenes Jahr im Schnitt bei 98 Prozent.

Hinzu kommt, dass die Einnahmen-Ausgaben-Bilanz des Staates wieder ins Lot kommt. »Die Ausgaben werden sich absehbar wieder normalisieren, bei den Einnahmen hat bereits die Trendwende eingesetzt«, sagt Dullien. So stiegen die Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben bereits wieder kräftig, obwohl die erste Jahreshälfte immer noch von Kontaktbeschränkungen und erzwungenen Betriebsschließungen in Einzelhandel und Gastronomie geprägt war. »2022 wird das Defizit deshalb spürbar geringer ausfallen als im laufenden Jahr«, schätzt Dullien.

Denn die hiesige Wirtschaftsleistung wächst wieder. Von April bis Juni betrug das Wirtschaftswachstum nach Abzug der Inflation und anderer statistischer Effekte 1,6 Prozent. In den ersten drei Monaten des Jahres schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aufgrund der dritten Welle und der damit verbundenen Schutzmaßnahmen noch um zwei Prozent. Laut Dullien könnte die Wirtschaftsleistung nun noch im Laufe des zweiten Halbjahres das Vorkrisenniveau wieder erreichen – »wenn nicht neue, umfassende Kontaktbeschränkungen oder massive Einschränkungen der Wirtschaftsaktivität durch die Delta-Welle einen Strich durch die Rechnung machen«. Dabei würde eine Fortsetzung der konjunkturellen Erholungen mehr Steuern und weniger Ausgaben für den Staat bedeuten.

Doch ganz so schnell, wie zunächst erwartet, dürfte die Konjunktur nicht an Fahrt gewinnen. »Für das Gesamtjahr müssen wir wohl unsere Prognose aus dem Juni etwas nach unten korrigieren, weil wir damals die Dauer und Breite der Lieferunterbrechungen in der Industrie unterschätzt hatten«, schätzt Dullien. Er glaubt, dass ein Wachstum von 4 Prozent noch »erreichbar« sei. Im Juni ging sein Institut noch von 4,5 Prozent aus.

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