Tödliche Pannen bei französischen und belgischen Sicherheitskräften

Manche Terroristen wurden wegen interner Versäumnisse bei der Polizei erst mit Verzögerung oder noch gar nicht gefasst

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Hasna Aït Boulahcen zählt zu den Komplizen der Attentäter von Paris. Zwei Tage nach den Pariser Attentaten hatte sie eine jetzt von der Justiz aus Sicherheitsgründen nur Sonia genannte Freundin gebeten, sie zu einem Cousin in einer Pariser Vorstadt zu fahren, der Hilfe brauche. Es handelte sich um Abdelhamid Abaaoud, den damals von der Polizei steckbrieflich gesuchten Koordinator der Anschläge, der 48 Stunden in einem Gebüsch kampiert hatte.

Sonia schildert in ihrem Buch »Témoin« (»Zeuge«) das damals Erlebte: »Wer sind Sie, Monsieur?«, fragte sie. »Abdelhamid Abaaoud!«, erwiderte er. Abaaoud bedrohte sie mit dem Tod, falls sie sprechen sollte. Dennoch rief sie am nächsten Tag die Telefonnummer 197 für sachdienliche Hinweise zu den Attentaten an. Doch von den Polizisten, die mit Tausenden von zumeist nutzlosen Hinweisen überhäuft waren, wurde sie zunächst nicht ernst genommen. Erst als sie bei der Beschreibung des Mannes seine orangefarbenen Turnschuhe erwähnte, merkten die Polizisten auf, denn dieses Detail, das man anhand von Videoaufnahmen seiner Flucht per Metro kannte, war bis dahin nicht veröffentlicht worden. Nun wurde Sonia plötzlich doch zu einer ernst zu nehmenden Zeugin. Durch ihre Hinweise konnte ein Polizeikommando den Attentäter in einer Wohnung im Vorort Saint-Denis aufspüren, wo er inzwischen Unterschlupf gefunden hatte. Der Mann zündete beim Sturm der Polizei auf sein Versteck seinen Sprenggürtel und kam zusammen mit weiteren Personen ums Leben.

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Sonia, die wegen wiederholter Todesdrohungen mit diesem neuen Namen in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde, tritt jetzt im Prozess als Schlüsselzeugin auf.
Der einzige noch lebende Attentäter Salah Abdeslam, dessen Sprenggürtel offensichtlich nicht funktioniert hat, irrte in der Tatnacht stundenlang durch Paris. Am frühen Morgen wurde er von zwei Freunden abgeholt, die er in Brüssel angerufen hatte. Auf der Rückfahrt wurde ihr Auto vor der belgischen Grenze von Gendarmen angehalten, die die Personalien der drei Insassen kontrollierten. Da die Namen weder in der internationalen Fahndungsliste noch in der EU-Datei dschihadismusverdächtiger Personen verzeichnet waren, ließ man sie ungeschoren weiterfahren.

In Paris hatte die Polizei im Attentäter-Auto vor dem Bataclan im Handschuhfach zunächst den Mietvertrag übersehen, der auf Salah Abdeslam ausgestellt war. Deshalb wurde sein Name erst so spät zur Fahndung ausgeschrieben, dass er bei der Straßenkontrolle mit einer Viertelstunde Zeitvorsprung entkommen konnte. Er konnte erst vier Monate später durch die belgische Polizei im Brüsseler Stadtteil Molenbeek aufgespürt und verhaftet werden.

Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek gilt als das europäische Zentrum des radikalen Dschihadismus. Das hatten die belgischen Sicherheitskräfte lange unterschätzt. Abdelhamid Abaaoud und die anderen Attentäter des 13. November in Paris waren alle hier aufgewachsen und hatten sich unter dem Einfluss dschihadistischer Imame radikalisiert. Sie waren den Sicherheitsbehörden bekannt, doch in den Akten wurden sie durchweg als ungefährlich eingestuft. Abdelhamid Abaaoud konnte mit seinem belgischen Pass sogar mehrmals zwischen Brüssel und Syrien pendeln, ohne dass das aufgefallen wäre.

In Untersuchungsausschüssen, die das französische und das belgische Parlament einberufen hatten, wurden all die Pannen und Versäumnisse Monate nach den Anschlägen in den Anhörungen aufgerollt. Hier mussten die Verantwortlichen der Polizei, der Geheimdienste und anderer Sicherheitsbehörden unter dem Druck der Fakten mehr oder weniger einsichtig oder kleinlaut einräumen, dass sie versagt hatten.

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