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  • »Torn Arteries« von Carcass

Das Festhalten an der Kreissäge

Plattenbau. Die CD der Woche: »Torn Arteries« von Carcass

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Metal-Genre ist mit all seinen Ausformungen und Verästelungen eines der vielgestaltigsten und kleinteiligsten im Pop. Dutzende Subgenres, Hybridgebilde und Traditionsstränge, die sich in ihm aufeinander beziehen und überlagern. Ein großer Teil des Vergnügens an dieser zuvorderst ja viszeralen Musik speist sich aus der Freude am Sortieren, Verorten und Verknüpfen.

Die Liverpooler Band Carcass zum Beispiel spielte auf ihren ersten beiden Alben »Reek of Putrefaction« und »Symphonies of Sickness«, erschienen 1988 beziehungsweise 1989, eine maximal rüpelige Musik, die das britische »Wire«-Magazin begrifflich vor Kurzem ganz richtig als »Caveman Grindcore« fasste. Songtitel wie »Cadaveric Incubator of Endoparasites« oder »Excoriating Abdominal Emanation« kommunizierten ein humoriges Interesse am Feld der Medizin und da vor allem der chirurgischen Zerlegung von Körpern, das die Band sich bis heute erhalten hat.

Auf dem Nachfolger »Necroticism – Descanting the Insalubrious« schraubte die Band das Tempo runter, die Blastbeat-Teile waren nun eingefasst in bollerigem Death Metal, kurze, hysterische Gewaltausbrüche, während die Musik, in die sie eingefasst waren, Hörerin und Hörer kontinuierlich verdrosch.

1994 kam dann das eine formvollendete Album, das, auf dem alles in einer Weise zusammenkam, in der das einer Band innewohnende Potenzial sich zu voller Blüte entfaltete. »Heartwork« ist das »Master of Puppets« und »Reign in Blood« von Carcass. In »Buried Dreams«, »This Mortal Coil« oder »Arbeit Macht Fleisch« purzelten lebensfroher Rock’n’Roll, Death-Metal-Gekeife und todessehnsüchtiges Gehacke organisiert durcheinander, auch ein Vierteljahrhundert nach Ersterscheinen noch herzerwärmend. Die Virtuosität, mit der Carcass manisch auf ihren Instrumenten rumdreschen, ist keine Pimmelschau, sondern sehr belebend. Chirurgen, die mit der Axt operieren sozusagen, detailversessen und brachial in derselben Sekunde.

Es folgten etwas leider Misslungenes (»Swansong«), Streit und Bandauflösung. Bis sich Carcass in gesetztem Alter und mit nur noch zwei Gründungsmitgliedern zusammenfanden, um da anzusetzen, wo man mit »Heartwork« einst aufgehört hatte. Das zweite Album nach der Reunion, »Torn Arteries«, ist eines der schönsten der Bandgeschichte. Geht man von den Tempowechseln und den vielen Breaks aus, ist das fast schon Prog und ähnlich komplex gebaut, wie der extremere Metal der letzten Jahre im Gefolge von Mastodon.

Nur, dass Carcass sich, ähnlich wie die in dieser Hinsicht ganz ähnlich operierenden Napalm Death, die Freude am radikal Stumpfen und an der Kreissägengitarre erhalten haben. Da gibt es auch mal einen Hänger – ein Song wie »Flesh Ripping Sonic Torment Limited« müsste jetzt auch nicht eine Ewigkeit knapp zehn Minuten ramentern –, aber alles in allem ist »Torn Arteries« doch eines der bezauberndsten und abwechslungsreichsten Metal-Alben des laufenden Jahres. Und dabei so puristisch, dass es auch (oder vielleicht vor allem) Hörerinnen und Hörern über Vierzig gefällt.

Die Texte, also das, was man akustisch noch verstehen kann, sind nicht mehr ganz so ekelhaft wie früher, werden aber nach wie vor mit einem hörbaren Grinsen vorgetragen. Eine Heiterkeit, die sich auf den Hörenden überträgt: Lieber ein Leben lang »Embryonic Necropsy and Devourment« als ein bürgerliches Wesen werden.

Carcass: »Torn Arteries« (Nuclear Blast/ Rough Trade)

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