»Das Kann-ich-auch war sehr wichtig«

Vor 40 Jahren erschien das erste Album von Palais Schaumburg. Ein Gespräch mit Holger Hiller

  • Kristof Schreuf
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor 40 Jahren erschien das erste Album von Palais Schaumburg. Darauf singen Sie vom »Tiger an der Pampel Ampel«. Und Sie kündigen an, ein »Murmeltier aus Gipsbenzin« zu »sengeln.« Sie drohen: »Grünes Winkelkanu / Ich dreh dir den Hals um.« Wie sind Sie auf solche Ausdrücke gekommen?
Durch Automatisches Schreiben. Also Notieren, ohne dass sich irgendein innerer Richter einmischt, sei es ein Über-Ich, sei es eine Syntax. Das liefert schnell Ergebnisse wie die, die Sie jetzt zitiert haben. Beim anschließenden Editieren habe ich mich bemüht, an einer bestimmten Grenze zu bleiben.

Warum?
Ich wollte nicht zu viel ausblenden, mich aber auch nicht zu nackt machen.

Holger Hiller

Holger Hiller war der Sänger und Gitarrist auf dem Debütalbum von Palais Schaumburg, das vor 40 Jahren bei Phonogram erschien. Es hieß wie die Gruppe, die vorher schon Singles auf Alfred Hilsbergs ZickZack-Label veröffentlicht hatte. Es war wegweisender ironisch-euphorischer Untergrundpop, der der Neuen Deutschen Welle vorausging. Vorher hatte Hiller, geboren 1956 in Hamburg, Synthesizer bei der Band Geisterfahrer gespielt. Violine kann er auch.

Während seines Kunststudiums lernte er Walter Thielsch (1950–2011) und Thomas Fehlmann kennen. Mit Thielsch wirkte er auf Platten des dichtenden Rockmusikers Kiev Stingl mit. Mit Fehlmann gründete er Palais Schaumburg. Auf »Lupa«, ihrem zweiten Album (1982), sang dann Thielsch. Hiller hat mehrere Solo-Alben veröffentlicht und in England als Produzent gearbeitet. Er lebt heute in Berlin und tritt seit einigen Jahren wieder mit Palais Schaumburg auf.

Diese Grenze muss Sie im Studio während der Aufnahmen unter großen Druck gesetzt haben, denn Sie klingen auf der Platte gehetzt und exaltiert. Immer wieder fangen Sie Worte an, um sie abzubrechen. Sie singen, während es Ihnen gleichzeitig die Sprache verschlägt. War das Absicht?
Ja, denn alles, was bei den Worten an Subtexten mitklang und in der Musik an Untertönen mitschwirrte, sollte auch zu hören sein. Palais Schaumburg wollten damit den Eindruck der Anwesenheit bestimmter Persönlichkeiten erzeugen.

Was sollte das Publikum von diesen Persönlichkeiten halten?
Es sollte sich sagen können: Da waren die und die Leute im Studio, die haben sich dort so und so aufgeführt – und ich kann es auch. Denn dieses Ich-kann-es-auch und die damit verbundene Selbstermächtigung waren damals sehr wichtig.

Was passiert, wenn sich einer selbst ermächtigt?
Dann eröffnet er sich einen Bewegungsspielraum, in dem er sich erfinden kann. Leute wie David Bowie haben das Platte für Platte immer wieder gezeigt. Ihr Spielraum ermöglicht ihnen eine Art von Reichtum.

Meinen Sie Ausdrucksreichtum?
Nein, eher Lebensreichtum.

Ihren Reichtum zeigen Sie auch mit der Ansage: »Morgen wird der Wald gefegt.«
Solche Ansagen eignen sich, um bei Hörerinnen und Hörern Impulse zu triggern und Gefühlsebenen aufzumachen. Musik ist ja völlig abstrakt, aber sie kann so starke Gefühle hervorrufen, dass die dann ganz konkret erscheinen.

Konkrete Gefühle, toll.
Um ein Beispiel zu geben: Meine Mutter Pauline Rebentisch hat geweint, wenn bei uns zu Hause im Radio ein Schlager lief. Aber nicht wegen des buchstäblichen Textes, den da jemand vortrug. Sagen wir, Lale Andersen sang: »Ein Schiff wird kommen / Und das bringt mir den einen / Der mich so liebt wie keinen / Und der mich glücklich macht.« Währenddessen dachte meine Mutter natürlich nicht darüber nach, ob auch zu ihr, einer alleinerziehenden Krankenschwester, mal ein Schiff kommen und »den einen« bringen würde. Dafür konnte das Lied bei ihr die Bereitschaft triggern, auf ihre Lebenslage zu schauen, was sie sich sonst womöglich nicht getraut hätte.

Demnach könnte das Schiff, auf das Lale Andersen wartet, bei Ihnen als »Grünes Winkelkanu« wiederaufgetaucht sein. Sie haben es auf der Platte ebenso umgearbeitet wie die Kinderoper »Wir bauen eine Stadt« von Paul Hindemith. Dieses Lied klingt bei Ihnen so funky, dass es wirkt, als ließe sich eine ganze Stadt mit Leichtigkeit bauen. Um etwas Neues zu beginnen, genügt offenbar, es sich einfach zu trauen. Wie kamen Sie dazu, sich mit Paul Hindemith zu beschäftigen?
Durch die Schulzeit – da haben wir diese Kinderoper mit dem Chor aufgeführt. Allerdings nahm ich für Palais Schaumburg die Sätze raus, die mir im Libretto autoritär vorkamen.

Wer gab Ihnen das Selbstbewusstsein, mal eben Hindemith bzw. das Libretto von Robert Seitz umzuschreiben?
Wiederum meine Mutter. Sie war zwar weder links noch ein Hippie, aber sie hat mich in unserer kleinen Hochhauswohnung in Hamburg-Jenfeld antiautoritär aufgezogen. Dazu spornte sie mich bei allem an, was ich machte, und gab mir den Mut, Abenteuer zu erleben.

Was für Abenteuer waren das?
Die begannen Ende der 60er Jahre, als ich 13 wurde. Da schrieb ich für eine Schülerzeitung und schnappte das Wort »Kommune« auf. Was es bedeutete, wusste ich nicht, aber es klang interessant. Deshalb fragte ich rum, ob jemand wüsste, was eine Kommune sei und wo ich eine finden könnte. Ein Mitschüler nannte mir eine Adresse am Karl-Muck-Platz, ich bin hin, klingelte, jemand öffnete, und ich fragte etwas unbeholfen: »Seid ihr eine Kommune?« Die Bewohner fanden mich natürlich drollig. Aber von ihnen habe ich in den nächsten Jahren viel gelernt, unter anderem eben auch Automatisches Schreiben. Und in den Sommerferien konnte ich bei ihren Freunden in England wohnen. Die betrieben ein vegetarisches Restaurant, machten bei Sit-ins mit und schmissen mit mir ein paarmal LSD-Trips. Die Weiterentwicklung meiner Schreibtechniken hat das ziemlich beflügelt.

Haben Sie damals auch schon Musik gemacht?
Ja, meine Mutter hatte mir Unterricht in klassischer Gitarre gegeben. Nach den Sommerferien lernte ich nun über die Kommune die gerade gegründete Krautrockband Faust kennen. Die probten in einer Jugendherberge in der Nähe der Landungsbrücken, und wir haben zusammen gejammt.

Ihre Mutter hat Ihnen wirklich Mut gemacht, denn es gibt wahrscheinlich nicht viele Menschen, die sich im zarten Alter von 13 Jahren trauten, eine Kommune kennenzulernen und mit einer Krautrockband zusammenzuspielen.
Glücklicherweise bin ich halt immer wieder auf viele Menschen gestoßen, die mich förderten. Das gilt auch für einen Kunstlehrer in Flint in Michigan. Als ich 16 war, verbrachte ich dort während eines Schüleraustauschs ein Jahr, und dieser Lehrer regte mich an, Leute aus der dortigen Subkultur zu fotografieren. Das habe ich sehr gern gemacht.

Wie war es bei der Rückkehr nach Hamburg?
Da spürte ich einen starken Drang, aus der Peripherie, als die mir Jenfeld vorkam, ins »Zentrum« zu kommen. Auch wenn ich mir nicht sicher war, was ich mir unter diesem »Zentrum« vorstellen sollte, außer dass es in der Innenstadt liegen musste.

Konnten Sie dieses Zentrum entdecken?
Ja, in der Gegend um den Fischmarkt herum, wo sich eine Gegenkultur entwickelt hatte. Ich bin dort von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft gependelt. Damals genügte ein Anruf, man fragte nach einer Matratze, und schon hattest du eine Unterkunft. Also, diese Wanderungen von einer Adresse zur nächsten, zusammen mit den Erfahrungen in England und den Erlebnissen in den USA – das war, wenn Sie so wollen, meine »Ausbildung«.

Sie sagen, dass damals ein Anruf genügte, um eine Unterkunft zu bekommen. Wie unterschied sich diese Zeit noch von heute?
Durch den riesigen Optimismus, der in diesen Jahren herrschte. Es ist ja auch kein Zufall, dass wenig später ein Optimist wie Alfred Hilsberg bereit war, jedes Demo-Band, das ihm von einer Band aus der hintersten Provinz geschickt wurde, als Platte auf seinen Labels herauszubringen. Diese wunderbar freie, schöpferische Zeit der frühen Neuen Deutschen Welle hat zu einem guten Teil Alfred ermöglicht.
Der Optimismus hat aber auch meine persönlichen Entscheidungen beeinflusst. Um noch ein Beispiel zu geben: Ich habe mich vor dem Abitur von der Schule abgemeldet, weil ich dachte: Was soll das? Wozu brauche ich diesen Schulabschluss? Die Gesellschaft wird sich in Kürze radikal verändern, da werden wir ein Abitur gar nicht mehr brauchen.

Das erste Album von Palais Schaumburg klingt noch heute, als könnte es immer wieder gebraucht werden. Mochten Sie es, nachdem es erschienen war?
Schwer zu sagen. Wissen Sie, es ist doch so: Kurz nach einer Platte denken Sie womöglich: »War toll!« Aber schon bald darauf sind Sie sicher: »Das ist das Schlimmste, was ich je verbrochen habe!« So geht das hin und her. Tatsächlich haben Sie überhaupt keine Vorstellung, ob die Platte gelungen oder unterirdisch ist. Es können Jahrzehnte vergehen, bis Sie ein Urteil darüber fällen.

Wie lautet es 2021?
Vielleicht nicht schlecht.

»Palais Schaumburg« ist bei Bureau B/Indigo wiedererschienen.

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