Hamster in Käfigen

Am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier verhandelt Regisseur Volker Lösch mit »Stadt der Arbeit« die Politik des Jobcenters

  • Glenn Jäger
  • Lesedauer: 5 Min.

Fünf Käfige, fünf Insassen. Als sich der Nebel lichtet: zwei weitere Reihen mit Zellen. Die 15 Laienschauspieler, die am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ihre realen Geschichten auf die Bühne bringen, sind einem harten Regiment ausgesetzt: dem des Jobcenters, das vorgibt, sie vermitteln zu wollen - in eine Arbeit, die es dank »Umstrukturierung« kaum noch gibt.

Das Kommando der Wächter - pardon: der »Fallmanager« -, mit großer Präsenz gespielt von Gloria Iberl-Thieme und Glenn Goltz, ist scharf. Die Diagnosen lauten »arbeitsmarktferne Dauerkranke«, »chronische Traumtänzerei« oder - gegen eine »politische Gefangene« und einstige Betriebsrätin - »linksverwirrt«. Da hilft nur Schikane: Isolation, Einzelcoaching oder halbe Ration. Bei Vergehen wird die Stütze gekürzt.

Zu den Insassen zählt Uwe, 40 Jahre lang Briefträger. Einst konnte er »mit den Menschen reden«, »man kannte sich«. Dann kamen Privatisierung, größere Zustellbezirke, »glückliche Aktionäre«. Wenn »du das nicht mehr schaffst, kommt ein Jüngerer, der macht’s schneller und billiger«. Oder Aref, syrischer Flüchtling, Erfahrung mit Wasserversorgung und Logistik. Die Köchin, die Erzieherin, die Kellnerin aus der Veltins-Arena. Oder Gerhard: Lagerarbeit, Küchenhilfe, Löter, 40 Jobs. Zwischendurch abgestürzt, Alkohol, Tabletten, Meskalin. Einbrüche, in Schrebergärten geschlafen. »Identitätsstörung, du brauchst Struktur«, wird er zurechtgewiesen - und als »Held der Arbeit« präsentiert: ein Herkules, immer wieder aufgestanden. Keiner wie Hendrik, erklärtermaßen »lustbetonter Systemverweigerer«, ein hoffnungsloser Fall. Mit Wut und Verstand werden sie am Ende vorrechnen: »Jeder Vierte bezieht Hartz IV in Gelsenkirchen.« Minijob, Ein-Euro-Job, Ehrenamt, »ihr lasst uns arbeiten und nennt uns Arbeitslose«. 1500 Euro kosten sie monatlich, »Lebensunterhalt, Mietkosten, Sonderbedarfe, Verwaltung, Bespitzelung, Vermittlung«. Geld für sozialversicherungspflichtige Jobs sei da, zu tun gebe es genug: Erziehung, Umwelt etc. Und wozu die 40-Stunden-Woche?

So könne es »nicht weitergehen«, wird Generalintendant Michael Schulz auf der Premierenfeier sagen, man habe einen »Impuls nicht nur an die Stadtgesellschaft, sondern auch darüber hinaus« geben wollen. Ob denn ein protestantischer Arbeitsbegriff, siehe Luther oder Max Weber, noch tauge, bei dem, »was hier passiert«? Ein Fall also für Volker Lösch (Regie) und Ulf Schmidt (Text). In Dresden bietet Lösch in »Tartuffe oder Kapital und Ideologie« derzeit »überzeugende Kapitalismuskritik« (»Sächsische Zeitung«). In Gelsenkirchen blitzen theoretische Versatzstücke zwischen den Zeilen auf. So lässt sich Joseph Schumpeter heraushören, wenn ein gedrillter Insasse als »schöpferischer Zerstörer« die »Effizienz steigern« und »Kosten drücken« will. John Maynard Keynes habe, so der Chor, »vor hundert Jahren vorausgesagt«, dass man »im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten« müsse.

Die Überhöhung von Arbeit wird symbolhaft gezeigt, wenn die Figur der Labora singend von der Decke schwebt, exzellent verkörpert von der Opernsängerin Eleonore Maguerre. Kongenial ergänzt wird sie von Sebastian Schiller als »Dromus«, der mit schmetterndem Gesang die Daumenschrauben fester zieht. Haydn, Wagner, Eisler. »Sex machine«, »Holding out for a hero«, das »Steigerlied«: Die Musik macht die Inszenierung noch kurzweiliger.

In der Pause gibt es erste Diskussionen: Erinnern die Zellen und orangefarbigen Overalls nicht an Guantanamo? Nee, kann man machen, Theater muss zuspitzen, und die Farbe knallt auf der Bühne. Zudem: Früher herrschte die Knute über die Kumpel, heute fahren sie dich gegen die Wand - Hamster im Käfig. Aber was würden die zwei, drei Bekannten aus dem eigenen Umfeld sagen, die im Jobcenter arbeiten, ihre Spielräume nutzen? Nun, das sei kein Widerspruch, hier stünden zwei Figuren für den Irrsinn eines Systems namens Hartz IV, das einen gefangen hält. Offen bleibt die Frage, wie das Brecht’sche »Lob des Lernens« zu verstehen ist, das die »Fallmanager« auf die Bühne bringen, beherzt, ohne Befehlston. Jener Aufruf an den »Mann im Gefängnis«, die »Frau in der Küche« die »Sechzigjährige«. Schlüpften die beiden kurz aus ihren Rollen? Episches Theater, Verfremdungseffekt? Werden sie sich am Ende ihrer sozialen Lage als Büttel bewusst und gemeinsam mit den Getriezten aufstehen? Mit ihnen die »Führung übernehmen«?

Schon läutet es zum erneuten Einlass nach der Pause. Auf dem Boden eine überdimensionale Zielscheibe, dahinter das groß aufspielende Orchester. Das Jobcenter bittet zum Casting: Eine einzige Stelle gebe es, sie bekomme, wer sich am besten »verkauft«. Besonderer Applaus gilt Hendrik mit Dreadlocks und goldener Unterhose, »los trau dich, tritt mir hier voll rein«, das sei »gut für das Betriebsklima«. Oder Gönül, orientalischer Tanz, das Kleid mit Logos von Shell, UPS und Co. übersät.

Noch einmal kommen die Käfige zum Einsatz, rollen über die Bühne, die Insassen sinnbildlich im Kreis gedreht, teilweise im Gruppenvollzug. Doch begehren sie auf gegen die Logiken des ersten, zweiten, dritten Arbeitsmarktes. »Ihr zwingt uns«, ruft der Chor, »sinnlose Arbeiten zu verrichten / die gar keine Arbeit sind / um uns damit / für Arbeitsplätze vorzubereiten / die es nicht gibt.« Unversehens dominieren sie das Bild, die Fallmanager sind gewichen. Als Teil des Chors verstehen sich Iberl-Thieme und Goltz auf ihr Handwerk, dezent den Takt vorzugeben.

Am Rande der Premierenfeier flammen wieder Fragen auf: Warum nicht auch jene verkörpern, die von der Agentur profitieren? Jene, deren weit verlängerter Arm der Fallmanager ist? Nun, Niedriglohnsektor, Konzerngewinne, das wurde doch benannt. Und wie soll das umgesetzt werden, da die Ruhrbarone - Zigarre und Zylinder - verschwunden sind? Die Diskussion reißt ab, als die »Helden des Abends«, wie Schulz die »Insassen« in seiner Rede nennen wird, aus den Katakomben steigen. »Monatelang geprobt, verdammt, hab ich heute gezittert«, gesteht einer von ihnen im Gespräch. »Ich saß in dem Käfig«, so eine andere, »und hab erst mal gebetet, da war ich ganz ruhig.« Die Wucht und Verve, mit der die Laien, die Expertinnen des Alltags an diesem Abend auftraten, lässt auf hartes Proben in kollegialer Arbeit schließen. »Noch nie, ganz ehrlich«, entfuhr es einer von ihnen, »habe ich mich so wertgeschätzt gefühlt wie hier.«

Als wir in die Nacht von Gelsenkirchen hinaustreten, hallt der Chor noch nach. Der »Reichtum der Zukunft« liege »nicht unter Tage«, der »Reichtum der Zukunft / sind wir«. So mochte der neue Tag anbrechen.

Nächste Vorstellungen: 16., 17., 24. und 28.10.

www.musiktheater-im-revier.de

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