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Die Welle der Geimpften
Bei den Covid-Infektionen gehen die Zahlen wieder stark nach oben. Politische Reaktionen: Fehlanzeige
Die 7-Tage-Inzidenz bei den Covid-19-Infektionen hat wieder die 100er-Marke überschritten, die nach früheren Regelungen die Bundesnotbremse in Gang gesetzt hätte. Dies geht aus Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Wochenende hervor.
Dass die Infektionen mit Beginn der kalten Jahreszeit deutlich ansteigen würden, war erwartet worden. Überraschend ist aber, dass die Zahlen höher als vor einem Jahr sind: Damals lag die Inzidenz bei 56,2. Impfstoffe waren im Oktober 2020 noch nicht im Einsatz, während heute fast 55 Millionen Bundesbürger vollständig geimpft sind. Und nicht nur das: Wurden vor einem Jahr 1030 Menschen mit Covid-19 intensivmedizinisch im Krankenhaus behandelt, sind es aktuell 1541.
Das zuletzt eher beschwichtigende RKI wird nun wieder etwas nervös: »Seit Ende September 2021 zeichnet sich wieder ein steigender Trend der 7-Tages-Inzidenzen ab, der in der letzten Woche in fast allen Altersgruppen sichtbar wurde«, schrieb die für die Seuchenbekämpfung zuständige oberste Bundesbehörde am Freitag in ihrem Wochenbericht. Bei den Inzidenzen liegen demnach jüngere Altersgruppen vorne, Spitzenreiter sind die 10- bis 14-Jährigen mit einer 7-Tage-Inzidenz von über 170. Bei den Krankenhausbehandlungen hingegen sind weiterhin die über 80-Jährigen vorne, gefolgt von den 60- bis 79-Jährigen. Auch das ist erstaunlich, da diese Altersgruppen die höchsten Impfquoten verzeichnen.
Doch wie sind die Zahlen zu bewerten? Der direkte Jahresvergleich ist natürlich schwierig, da es sich jeweils um Momentaufnahmen handelt, die nichts darüber aussagen, wie die weitere Entwicklung ist. Außerdem wurde im vergangenen Jahr weit weniger getestet, weshalb natürlich auch weniger Infektionen festgestellt wurden.
Der Hallenser Epidemiologe Alexander Kekulé sagt jedoch, er habe »ein mulmiges Gefühl«. Es finde jetzt diese »befürchtete Welle der Geimpften« statt. Und die Politik mache wenig, um diese einzudämmen. »Keiner weiß genau, was dann passiert.«
Dass die Inzidenz in den vergangenen Wochen so stark gestiegen ist, dürfte mehrere Gründe haben. Das eine ist die Schwächung der Teststrategie durch die Kostenpflichtigkeit und die Zulassung des 2G-Modells. Auch weitere Lockerungen etwa bei Quarantäneregelungen und Maskenpflicht in den Schulen schlagen auf die Inzidenz durch. Dies alles dürfte auch mit schwindender Vorsicht in der Gesellschaft einhergehen.
Außerdem ist trotz Impffortschritten etwa ein Drittel der Bevölkerung ungeimpft, bei den Erwachsenen etwa ein Viertel. Auch wenn die offiziellen Zahlen die Lage etwas zu schlecht darstellen, bleibt festzuhalten, dass viele ungeschützt sind, Kinder sowieso. Selbst bei den über 60-Jährigen sind etwa drei Millionen Menschen nicht geimpft. Und diese haben bei Infektionen ein hohes Risiko schwerer Verläufe. Manche Virologen haben deshalb nur einen Rat: »Das gesamtgesellschaftliche Ziel muss sein, die Impflücken zu schließen«, sagt etwa Christian Drosten von der Berliner Charité. »Man muss diejenigen, die nicht geimpft sind, überzeugen, sich impfen zu lassen.«
Die Forderung ist richtig, aber letztlich wohlfeil, da sich viele Leute nicht oder zumindest nicht mit den neuartigen mRNA-Impfstoffen impfen lassen wollen. Außerdem wurde spätestens mit der deutlich clevereren Delta-Variante - sie macht fast alle Fälle in Deutschland aus - klar, dass Herdenimmunität bei Sars-CoV-2 nicht erreicht werden kann. Die vorliegenden Vakzine schützen zwar sehr gut vor schwerer Erkrankung, aber nur noch mäßig gegen Infektionen: Die Wirksamkeit liegt im Bereich von 45 bis 70 Prozent. Daher gibt es jetzt sehr viele Impfdurchbrüche, die zum Gutteil auch noch unsichtbar sind. Oft bleibt die Infektion unbemerkt, und bei leichten Symptomen scheuen manche den Gang zum Arzt, um nicht in Quarantäne zu müssen - schließlich ist man ja geimpft.
Das Problem: Seit Delta ist klar, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. Sie sind zwar kürzer ansteckend, aber eben doch infektiös und tragen daher - mit zunehmender Impfquote ein zwangsläufiger statistischer Effekt - immer stärker zum Infektionsgeschehen bei. Und nicht nur das: Gerade bei den Hochrisikogruppen, also Menschen über 80 und solchen mit Immunsuppression etwa nach einer Organtransplantation, fällt die Immunantwort deutlich schwächer aus. Bei einer Infektion können sie, obwohl geimpft, sogar auf der Intensivstation landen oder sterben. Den Anteil der Impfdurchbrüche an der Hospitalisierung beziffert das RKI aktuell auf etwa 41 Prozent, bei den Intensivbehandlungen auf knapp 30 Prozent. Die Quoten sind umso höher, je älter die Patienten sind. Für die Hochrisikogruppen empfiehlt die Ständige Impfkommission eine weitere Booster-Impfung , doch dies dauert.
Der zunehmende Trend zu 2G ist in dieser Situation deshalb ebenfalls gefährlich. Bei der Wiedereröffnung des Berliner Clubs Berghain Mitte Oktober mit gut 2000 Teilnehmern, wo nur Geimpfte und Genesene zugelassen waren, wurden hinterher mindestens 28 Infektionen registriert. Das Problem ist, dass bei solch großen Veranstaltungen eine Nachverfolgung nicht möglich ist. Zwar wurden alle Gäste per Mail informiert, dass sie möglicherweise Kontakt zu einem Infizierten hatten, aber mehr als eine Woche später. Und da bei so vielen Leuten völlig unklar ist, wie eng der Kontakt war, wird sich kaum jemand in Quarantäne begeben oder Treffen mit Oma und Opa reduzieren.
Welche Reaktionen sind angesichts der steigenden Fallzahlen denkbar? Man könnte es machen wie im völlig geöffneten Großbritannien, wo die Regierung seit dem »Freedom Day« im Juli die Inzidenzen durch die Decke schießen lässt. Hier nehmen inzwischen auch die schweren Fälle massiv zu, erwartet wird eine noch mal niedrige fünfstellige Zahl an Todesfällen in der Wintersaison. Um nicht ganz untätig zu bleiben, predigt die konservative Regierung nun eine dritte Impfung für alle, deren Wirkung aber unklar ist.
Dafür dürften sich in Deutschland keine Mehrheiten finden. Alternativ dazu könnte die Politik den Kurs wie bisher fortsetzen, was aber ebenfalls Rekordwerte bei der Inzidenz nicht verhindern dürfte. Das RKI hatte schon mal Werte um die 500 modelliert, der bisherige Höchststand lag bei knapp 220. Oder aber die Politik korrigiert die jüngsten Fehler: 3G einschließlich flächendeckender Testung und Rückverfolgung wird wieder verbindlich, bestimmte Lockerungen in den Schulen werden rückgängig gemacht. Ganz große Veranstaltungen in Innenräumen werden untersagt. Und es gibt besondere Schutzmaßnahmen für Hochrisikogruppen, speziell in Altersheimen. Virologen empfehlen im Falle eines Ausbruchs die Gabe von Antikörpern.
Obwohl die 100er-Marke gefallen ist, hat dies anders als zur Zeit der Bundesnotbremse im Frühjahr 2021 keine unmittelbaren Folgen. Mit der kürzlichen Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes wurde dieser Indikator ja auch deutlich abgewertet. »Wesentlicher Maßstab« für Maßnahmen ist jetzt die Sieben-Tage-Inzidenz der Hospitalisierungen. Der Wert der Krankenhauseinweisungen mit Covid-19 pro 100 000 Einwohner lag am Freitag bei 2,68. Problematisch: Ein bundesweiter Schwellenwert ist nicht vorgesehen. Und Datenexperten des NDR haben ausgerechnet, dass die bundesweite Erfassung von Neuaufnahmen drei Wochen dauert. Dagegen ist die Inzidenz eher wichtiger als früher: Sie zeigt zeitig an, ob die Infektionslage außer Kontrolle gerät, was derzeit die eigentliche Gefahr ist.
Auch wenn die Politik die Pandemie wieder die falsche Richtung einschlagen lässt: Kein Experte rechnet damit, dass die Krankenhäuser wieder in die Nähe ihrer Belastungsgrenze kommen. Dies war um die Weihnachtszeit 2020 der Fall, als der bisherige Höchstwert bei der Hospitalisierung mit mehr als 15 erreicht wurde. Die Impfkampagne wird sich hier deutlich positiv bemerkbar machen. Und bei der Behandlung der Covid-Kranken hat man auch dazugelernt.
Tatsächlich zerbricht man sich in den Kliniken derzeit nicht über zu viele neue Corona-Patienten den Kopf, sondern darüber, dass ein Drittel der Betten auf Intensivstationen gesperrt ist. »Es fehlt schlicht das geschulte Pflegepersonal«, erklärt der Präsident der Intensivmedizinervereinigung DIVI, Uwe Janssens. »Die zurückliegenden, zermürbenden Monate haben zu einer Verschlechterung der Stimmung und zu weiteren Kündigungen von Stammpflegekräften geführt.«
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