Was treibt das Lumpenproletariat?

Am Schauspiel Leipzig wurde das Musiktheaterprojekt »La Bohème« nach dem gleichnamigen Opernklassiker von Puccini uraufgeführt

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 5 Min.

Neben zerrütteten Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie» sind es Literaten, Zuhälter und Taschendiebe, die Karl Marx in «Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte» als Bohème beschreibt. Während er das französische Äquivalent zum Lumpenproletariat abwertend gebraucht, wandelt sich der Begriff zur gleichen Zeit. Die Schriftsteller Honoré de Balzac und Henri Murger erschaffen in ihren Romanen das Ideal des armen Künstlers, dessen Genialität sich erst in der unbeheizten Dachkammer voll entfaltet.

Seinen Durchbruch feierte die idealisierte Vorstellung von la bohème mit der gleichnamigen Oper Giacomo Puccinis, die Murgers «Scènes de la Vie de Bohème» adaptierte. In vier Bildern verbinden sich Liebe, Leidenschaft und der Wunsch nach radikaler Unabhängigkeit mit den materiellen Notwendigkeiten. Die vermeintliche Freiheit, die dieser süße Sehnsuchtsort imaginiert, endet im Tode Mimìs, der es an finanziellen Mitteln, reichen Liebhabern und einer Tuberkulosetherapie fehlt.

Anna-Sophie Mahler (Regie) und Anne Jelena Schulte (Text und Recherche) versuchen sich an einer Neuerzählung der «Bohème». Mittellose Visionäre, Kabaretttänzerinnen mit kaputten Rücken und verhinderte Cellisten, denen Heroin im Wert von zweieinhalb Lamborghinis durch die Adern fließt, stehen als Poeten, Maler und Philosophen unserer Zeit auf der Bühne. In ihnen wendet sich der Lumpenproletarier zum Lebenskünstler, der die Zwischenräume im System bewohnbar macht.

Mahler, die seit der Spielzeit 2021/22 Hausregisseurin am Schauspiel Leipzig ist, greift in ihren Musiktheaterproduktionen oftmals dokumentarisch auf die verhandelten Stoffe zu. Gemeinsam mit der Autorin Schulte begab sie sich auf die Suche nach den Bewohner*innen der Nicht-Orte in der Großstadt. Ihre Recherche führte sie von der Eisenbahnstraße zu einem Zeltlager in der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofs. In «La Bohème. Träume//Leipzig», das am letzten Freitag Premiere hatte, drängen die Geschichten der Marginalisierten die Arien an den Rand des Theaterabends am Schauspiel Leipzig.

Über das reduzierte Bühnenbild von Katrin Connan, die ebenfalls die Gestaltung der Kostüme übernahm, spannt sich ein beeindruckender Sternenhimmel. Sonst steht auf der Bühne nur ein Zelt neben einem großen, stetig nach vorn rückenden Felsen. An der Vorderkante sitzt Franz, gespielt von Katharina Schmidt, der dem Publikum von seiner Vision berichtet.

Das Camp ist für Franz «ein Ort, wo es Frieden gibt, für jeden, der ihn sucht». Der ehemalige Taxifahrer hat sich ein Leben in den Rissen der gesellschaftlichen Totalität geschaffen. Immer wieder erzählt der Hüter des Feuers, dass die Institutionen mit ihren Ein- und Ausschlüssen Ursprung der Gewalt sind. In dem Freiraum, der sich mit den zuströmenden Menschen immer weiter ausdehnt, seien diese Mechanismen ausgesetzt - so die naive Hoffnung.

Seine Sätze, in denen das Kondensat eines ganzen Lebens spürbar wird, sind durch die Wiederholung abgenutzt, wie eine oft gebrauchte Stütze. Alle Gäste und Bewohner*innen der Brache, deren Geschichten sich mit Puccinis Figuren verbinden, sprechen in abgeschliffenen Formulierungen, die sich mit der Wiederholung zunehmend versteifen. Die persönliche Entscheidung zum Aussteigertum legt sich dabei beschwichtigend über die Brutalität der Verhältnisse. Das ist die Krux des dokumentarischen Formats, denn in der individualisierten Erzählweise steht jedes Biografiefragment unantastbar für sich.

Mimìs Hände graben sich tief in die Taschen des silbernen Parkas, in dem ihr Körper fast ganz verschwindet, als sie auf die Bühne tritt. Erst mit acht Jahren habe sie begonnen zu sprechen, erzählt der von Alina-Katharin Heipe gespielte Neuankömmling. Heute läuft sie durch Parks, sammelt schönes Geschirr und pflanzt Blumensamen, die sie mit der geballten Faust ins Publikum pfeffert. Hubert Wilds beeindruckende Falsettstimme unterstützt das erste Liebesduett zwischen ihr und Rodolfo, gespielt von Patrick Isermeyer. Im schwarzen Abendkleid erscheint der Sänger auf der Bühne oder im Rang, leuchtend wie ein Teil des Nachthimmels, und setzt die musikalischen Höhepunkte. Seine glitzernde Totenkopfmaske schwebt als unheilsames Versprechen über dem Theaterabend.

Schnell bröckelt der Traum von radikaler Freiheit. Investoren haben die Wiese vermessen und verplant. Eigentumswohnungen und Büros werden dort nach oben wachsen und die jetzigen Bewohner*innen ausspeien. Als soziales Projekt institutionell vereinnahmt, hätte sich dieses «Eden» zwischen die Neubauten quetschen lassen, aber dagegen wehrte sich Franz zeitlebens. Die Inszenierung gedenkt des Visionärs, der auf dem Gelände letztes Jahr verstarb. Sein Name erscheint auf dem Felsen wie auf einem Grabstein, dann folgt ein weiterer. Auf der anderen Seite der Gleise wurde Nicky ermordet. Der Femizid blieb unaufgeklärt und die Ermittlungsarbeit wurde früh eingestellt. Erster Applaus erfüllt nach dem Innehalten den Saal, aber die Inszenierung ist noch nicht vorbei und setzt noch einen hoffnungsvolleren Endpunkt. Der suchtkranke Rodolfo lauscht der Cellistin Natania Hoffman, die mit dem Pianisten Arno Waschk den Abend musikalisch begleitet, und träumt davon, mit 60 Jahren selbst das In-strument in die Hand zu nehmen. Reines Heroin mache dich gar nicht so fertig, meint er, damit könne er es bis dahin schaffen.

Nächste Vorstellung: 21.11.

www.schauspiel-leipzig.de

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