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  • Machtübernahme der Taliban

Afghanistan - noch lange nicht verloren

Das von außen betriebene »State Building« ist gescheitert. Die verbreitete Kriegsmüdigkeit könnte einen neuen Dialog ermöglichen

  • Theresa Breitmaier und Basir Feda
  • Lesedauer: 7 Min.

Am 15. August 2021 begann mit der Übernahme Kabuls durch die Taliban ein neues Kapitel für Afghanistan. Auch wenn sich fatalistische Berichte häufen und Parallelen zur Taliban-Herrschaft der 1990er Jahre nahe liegen, wäre es falsch, die Komplexität der Situation zu ignorieren. Sie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Verantwortung für die nächsten Schritte in den Händen der neuen Herrscher des Landes liegt. Neben großer Macht bringt die von ihnen lang ersehnte Machtübernahme den Erfolgsdruck mit sich, das Land auf einen besseren Weg zu führen und das vor dem Hintergrund der weiterhin bestehenden Rahmenbedingungen:

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, das Land gilt als eines der korruptesten der Welt, es besteht eine große Abhängigkeit von der Drogenwirtschaft und Afghanistan ist den Folgen des Klimawandels gegenüber extrem verletzlich. Das sind die Herausforderungen für die neue Führung. Hinzu kommt, dass die durch den Fall der republikanischen Regierung und der staatlichen Sicherheitskräfte erreichte Waffenruhe nicht von langer Dauer sein muss. Sollte die neue Führung es nicht schaffen, in der kommenden Zeit die richtigen Entscheidungen zu fällen, könnte die relative Ruhe schnell vorbei sein. Dass sie dies nicht wollen, betonen die Taliban seit langem, ja, es ist ihr Hauptversprechen an die Bevölkerung.

Die Autor*innen

Theresa Breitmaier, Jahrgang 1988, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2016 bei der Berghof Foundation, einer Nichtregierungsorganisation, die in Krisen- und Konfliktregionen aktiv ist. Breitmaier ist in Projekten tätig, die den afghanischen Friedensprozess unterstützen sollen. Basir Feda, Jahrgang 1983, leitet den Bereich Afghanistan sowie Zentral- und Südostasien bei der Berghof Foundation. 

Ihr hier dokumentierter Text erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe des außenpolitischen Journals »Welttrends«, das einen umfangreichen Themenschwerpunkt »Afghanistan am Scheideweg« nach der Machtübernahme durch die Taliban enthält. Außerdem gibt es unter anderem einen Beitrag zu 20 Jahren Weltsozialforum. Zum Weiterlesen: welttrends.de 

Was ist zu tun?

Wenn man die letzten 700 Jahre afghanischer Geschichte betrachtet, wird eines schnell deutlich: Nachhaltiger Frieden ist nicht möglich ohne eine breite Einbeziehung der Gesellschaft und ohne die Sicherstellung von Grundrechten sowie sozialer Gerechtigkeit. Daraus leitet sich notwendigerweise eine Form »inklusiver« Regierung ab, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert. Sie muss zudem bemüht sein, die Ursachen des Konflikts anzugehen und langfristig verhärtete Konfliktlinien zu überbrücken. Im Falle Afghanistans liegt eine dieser entscheidenden althergebrachten Klüfte - vereinfacht gesagt - zwischen der konservativeren ländlichen Bevölkerung und den liberaleren, nach außen orientierten Eliten. Versuche einer dieser Gruppen, der jeweils anderen ihre Vorstellungen aufzudrängen, haben immer wieder zu existenziellen Ängsten und gewalttätiger Eskalation zwischen Teilen der Bevölkerung geführt.

Die Erfahrungen der letzten Jahre sowie die heutige Situation bieten eine neue Gelegenheit, diesen Kreislauf endlich zu durchbrechen. Das heutige Afghanistan unterscheidet sich in vielen Aspekten von dem der 1990er Jahre. Darunter einer der wichtigsten: Das Land sowie zumindest die Führung der Taliban sind fest mit der globalisierten Welt vernetzt und sind im Laufe der letzten 20 Jahre mit einer großen Bandbreite von Realitäten und Ideen in Kontakt gekommen.

Dies lässt hoffen, dass zum ersten Mal eine Chance besteht, die Kluft zwischen den Extremen im Land zu überbrücken. Konservative Kräfte haben durch den Blick über den Tellerrand Kompromissbereitschaft erlernt und neue Visionen für das Zusammenleben in einer modernen globalen Welt entwickelt. Liberale Eliten mussten schmerzhaft erfahren, was geschieht, wenn traditionelle Wertesysteme abfällig behandelt und legitime Bedürfnisse von Andersdenkenden nicht ernst genommen werden.

Die meisten Afghan*innen sind sich einig, dass die Priorisierung von individuellen Eigeninteressen einzelner Mächtiger über die Bedürfnisse der Gesamtgesellschaft nicht länger geduldet werden darf. Intoleranz und mangelnde Empathie - egal auf welcher Seite - können nicht zu nachhaltigem Frieden führen. Sollte sich die neue Führung dies zu Herzen nehmen, gibt es Chancen für eine friedliche Zukunft.

Welche Lehren ziehen?

Für solch fundamentale Veränderungen reichen freilich gute Absichten nicht aus. Die letzten Jahrzehnte des Konflikts hatten verheerende Auswirkungen auf das Vertrauen zwischen verschiedenen Gruppierungen, aber auch einzelnen Afghan*innen, was jegliche Zusammenarbeit erschwert. Um diesen Schaden nach und nach zu reparieren, werden Jahrzehnte sorgfältiger Aufarbeitung und Versöhnungsarbeit notwendig sein. Die Hoffnung ist, dass die vorhandene Kriegsmüdigkeit auf allen Seiten sowie die mit den Friedensverhandlungen und -dialogen der letzten Jahre zumindest ansatzweise entstandene Annäherung für eine Transformation der unterschwellig bestehenden Konflikte wegweisend sind. Die gesamte Gesellschaft muss neu lernen, wie verschiedene Traditionen miteinander gelebt werden können.

Die Geschichtensammlerin
Als Frau und als Filmemacherin fühlte sich Shahrbanoo Sadat in der afghanischen Gesellschaft oft wie eine Unsichtbare.

Die Geschichte anderer Länder zeigt, dass es nicht unmöglich ist, diese Herausforderung zu bewältigen. Leider ist aber auch die Wahrscheinlichkeit eines Abrutschens in erneute Gewalt sehr hoch, wenn die verschiedenen, zum Teil überlappenden Konflikte im Land nicht nachhaltig gelöst werden. Dazu braucht es kreative Lösungen und neue Kapazitäten. Wie die katastrophalen Entwicklungen um die Evakuierung am Kabuler Flughafen gezeigt haben, befähigt die siegreiche Bewältigung eines bewaffneten Konflikts nicht zur Kontrolle von Menschenmassen oder zum Schutz ziviler Bevölkerung, von anderen Aspekten effektiver Staatsführung ganz zu schweigen. Es ist nun an der neuen Führung des Landes, das Vertrauen der afghanischen Bürger*innen zu gewinnen und die Rahmenbedingungen für eine bessere Zukunft zu schaffen. Unter den Menschen, die verzweifelt um einen Weg in den Westen bemüht sind, sind viele am stärksten durch wirtschaftliche Not motiviert.

Treffen in Teheran
Afghanistans Nachbarn fürchten Flüchtlinge und Terroristen

Die Taliban-Führung hat in den Wochen seit der Machtübernahme bewiesen, dass sie im Vergleich zu den 1990er Jahren in der Lage ist, die richtigen Worte auch für kritische Ohren zu finden. Sie muss jetzt zeigen, dass auf diese Versprechungen, sich für die Bedürfnisse des Landes einzusetzen, Taten folgen. Dazu gehört, die Rechte afghanischer Frauen zu gewährleisten, statt diese als ein kulturell fremdes oder extravagantes Konzept abzutun. Pragmatisch betrachtet kann es sich Afghanistan nicht leisten, mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung auszuklammern, wenn Stabilität, Frieden und wirtschaftlicher Wohlstand erreicht werden sollen. Frauen spielen dabei oft eine entscheidende Rolle, wie man in traditionellen Kontexten und ländlichen Gegenden Afghanistans schon lange beobachten konnte.

Die internationale Gemeinschaft

Das Land ist das letzte Beispiel in einer Reihe von vielen für das Scheitern von Versuchen eines extern angeleiteten »State Building«. Es werden ausführliche Studien notwendig sein, um die korrekten Lehren aus der Situation zu ziehen. Was jetzt schon zweifellos feststeht ist, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan nicht im Stich lassen darf. Fehlende Unterstützung in den nächsten Monaten würde verheerende Konsequenzen nach sich ziehen - nicht nur für Afghanistan selbst und unmittelbare Nachbarländer, sondern auch für Europa. Auch wenn es angesichts der aktuellen Bilder Anlass für Pessimismus gibt, bringt dies nicht weiter. Schwarzmalerei, die Afghanistan jede Chance auf eine positive Zukunft abspricht, ignoriert die Handlungsmacht von Afghan*innen sowie komplexe Realitäten im Land und ist daher unangebracht.

Zeit der relativen Geborgenheit
Der Film »Kabul Kinderheim« widmet sich der der sowjetischen Besatzung in Afghanistan. Eine kurze Phase der Widersprüche.

Die heutige Lage, so unwahrscheinlich dies klingen mag, birgt neben großen Risiken auch neue Möglichkeiten für einen inklusiveren Friedensprozess als bisher. Die afghanische Bevölkerung in ihrer Vielfalt ist dabei die wertvollste Ressource des an Bodenschätzen reichen Landes mit seinem bei weitem nicht ausgeschöpften Entwicklungspotenzial.

Afghanistan steht wieder einmal am Scheideweg. Den für das Land besten Pfad zu wählen, dafür sind jetzt neue Anführer verantwortlich. Es liegt zunächst an ihnen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und auf die vielschichtigen Stimmen im Land zu hören. Afghanistans regionale Nachbarn und internationale Partner müssen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, damit das Land diese neue Gelegenheit erfolgreich nutzen kann. Nur durch die konstruktive Zusammenarbeit zwischen internen Eliten und internationalen Partnern wird Afghanistan es schaffen, sich von einer Bürde für die internationale Gemeinschaft in eine Bereicherung zu verwandeln. Voraussetzungen hierfür sind gegeben, die Alternative ist der Rückfall in ausufernde Gewalt.

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