Spahns 90-Grad-Wende

Warum »2G plus« nicht der Königsweg sein kann

Es ist ungewöhnlich, dass eine Behörde den eigenen Dienstherren zumindest zwischen den Zeilen auf Verfehlungen hinweist. Den »dringenden« Rat des Robert-Koch-Institutes an die Bürger, größere Veranstaltungen zu meiden oder sich auch als Geimpfter testen zu lassen, kann man genau so verstehen. Nicht nur, aber gerade Gesundheitsminister Jens Spahn lockte Impfwillige über Monate mit der Rückkehr zu alten Freiheiten - und hielt viel zu lange daran fest, obwohl die Delta-Variante des Coronavirus zu Impfdurchbrüchen führt. Die Aufhebung fast aller Beschränkungen für Geimpfte wiegte diese in falscher Sicherheit und ist ein Hauptgrund dafür, dass das Infektionsgeschehen wieder außer Kontrolle geraten ist.

Dass Spahn unter dem Druck der Rekordinzidenzen und wieder volllaufender Intensivstationen in Krankenhäusern jetzt seine Ansicht geändert hat, ist gut, auch wenn es eigentlich dafür zu spät ist und es sich nur um eine halbe Wende handelt. »2G plus« lautet die neue Formel, also Zugang nur für Geimpfte und Genesene, die zudem aktuell getestet sind. Damit dürften viele Infektionen auffallen, die zuvor unter dem Radar blieben. Funktionieren wird es aber nur, wenn dies mit Regeln zu Kontaktnachverfolgung und Quarantäne verbunden wird. Das Konzept hat auch ein grundsätzliches Manko: Wenn Ungeimpfte nicht mehr zu Veranstaltungen dürfen, werden sie sich noch mehr privat treffen, ungetestet und ohne Schutzmaßnahmen wie Abstand oder Maske.

Letztlich wird es nicht ohne strenges 1G, also Testpflicht für alle, gehen, wobei Großveranstaltungen in Innenräumen vorerst nur in stark eingeschränktem Maß stattfinden können. Das ist verdammt ärgerlich für alle, die sich haben impfen lassen und jetzt zum Schutz der ungeimpften Risikogruppen zurückstehen müssen. Doch solche Überlegungen taugen in einer akuten pandemischen Notlage nichts. Ansonsten lädt man das Problem auf das Pflegepersonal in Krankenhäusern ab, das ohnehin wieder am Anschlag arbeitet.

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