Marktliberale auf dem Vormarsch

Mario Candeias kritisiert, dass es den Koalitionären bislang an einem gemeinsamen Projekt fehlt.

  • Mario Candeias
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Dienstag wurde der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP unterzeichnet. Am Mittwoch wird Olaf Scholz (SPD) aller Wahrscheinlichkeit nach zum Bundeskanzler gewählt. Doch die Ampelkoalitionäre haben ein Problem: Sie haben kein gemeinsames Projekt. Ein Projekt, welches zugleich einen neuen gesellschaftlichen Konsens stiftet und zugleich ausreichend neue Profitaussichten für das Kapital mit sich bringt. Zu widersprüchlich sind die in der Ampel repräsentierten Interessen.

Es wird deutlich mehr Klimapolitik geben als unter Angela Merkel, immerhin. Da das alles der auf Wachstum und Profit ausgerichteten Wirtschaft nicht allzu sehr schaden darf, wird der rot-grün-gelbe Klimaschutz sehr moderat bleiben, also notwendig viele Grünen-Wähler*innen vergrätzen.

Zur Person
Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ähnlich sieht es bei den sozialen Themen aus. Die SPD wird Signalreformen wie die Erhöhung des Mindestlohns umsetzen, aber durch die FDP stets bei weitergehenden Regulierungen gebremst werden. Das sogenannte Bürgergeld, bisher nur ein ideologischer Wortschleier, weil Hartz IV abgenutzt klingt, kommt. Sanktionsfreiheit oder mehr Geld für Langzeitarbeitslose? Fehlanzeige. Höheres Rentenniveau, Mietenmoratorium, Reregulierung der Arbeit, Bürgerversicherung - also zentrale sozialen Punkte, die SPD und Grüne in die Verhandlungen einbringen wollten - sind auf unbestimmt vertagt.

Die FDP hat kaum eigene Punkte; sie tritt vielmehr als Wächterin auf. Die Liberalen sind die eigentliche Verbotspartei: kein Tempolimit, keine Steuererhöhung, kein erneuerter Sozialstaat, nicht zu viel Klimapolitik, keine Einschränkung unternehmerischer Freiheiten. Nein, nein und nochmals nein. Ziele von SPD und Grünen lassen sich mit dieser Partei nur begrenzt umsetzen. Schlimmer noch: Mit der FDP bekommen die Marktliberalen in SPD und Grünen stärkeres Gewicht - nicht nur bei der Klimapolitik, sondern besonders bei der Rückkehr alter Ladenhüter wie der kapitalgedeckten Rente oder verstärktem Wettbewerb bei der Bahn. Auch eine Kapitaloffensive im Gesundheitssystem oder in der Wohnungspolitik steht zu befürchten.

Die neue Regierung wird die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen nur halbherzig anpacken. Anders als in den USA gibt es keine Debatte über massive Investitionsprogramme in den ökologischen Umbau und die Rekonstruktion einer sozialen Infrastruktur. Ohne Aussetzung der Schuldenbremse und vor allem ohne Umverteilung lassen sich die Folgen der Pandemie und die notwendigen Investitionen nicht finanzieren. Es wird also eine verschärfte Zeit der Verteilungskämpfe geben. Dabei werden die Befürworter*innen einer sozial-ökologischen Politik insgesamt geschwächt. Insbesondere für (Industrie-)Gewerkschaften gibt es jetzt einen direkten Ansprechpartner im Kanzleramt und neuerdings bei den Grünen. Sie nutzen die bewährten Kanäle für den Umbau in sozialpartnerschaftlicher Routine mit Konzernen und Regierung. Das gleiche gilt für Teile der Umweltverbände und -bewegungen, die intensives Lobbying bei den Grünen betreiben werden. Gewerkschaften, die weniger profitieren (Sozial- und Erziehungsdienste, Pflege, Bildung, Handel und Lebensmittelindustrie), prekär Beschäftigte, aber auch viele Angestellte in der Industrie und radikalere Teile der Klimabewegung: Sie alle könnten in kurzer Zeit von der Ampel-Koalition enttäuscht werden.

Wenn die SPD keine neue »Agenda 2030« aufsetzt, symbolisiert sie mit ihrem Kanzler und der Signalreform Mindestlohn sowie zwei bis drei weiteren kleinen Verbesserungen den Spatz in der Hand, der vielen lieber ist als die Taube auf dem Dach. Die Grünen werden in der neuen Regierungskonstellation am meisten Verluste verzeichnen, weil ihre Wählerklientel am meisten erwartet. Bei der FDP ist es unklar, ob ihre Rolle als Wächterin ausreichen wird, um ihr dauerhaft Zustimmung zu sichern, wenn es der CDU gelingt sich freizuspielen.

Insgesamt bleiben große Spielräume für die einzige Opposition links der Regierung, wenn, ja wenn sie diese Chance zu nutzen weiß. Da gibt es keinen Automatismus, aber eine reale Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal