Genießend die Sinne stärken

Ein Genussprogramm hilft psychisch Kranken, im Alltag wieder Freude zu finden

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein leises Knacken ist zu hören, als die junge Frau in ein Stück Birne beißt. »Wie fühlt sich das an?«, fragt Gruppenleiterin Andrea Hunner. »Es ist hart«, antwortet sie und überlegt. »Und weich auf der Zunge.« Kurz darauf geht ein Teilnehmer zum Tisch, auf dem einige gut gefüllte Probierschälchen bereitstehen, und schiebt sich ein Stück Banane in den Mund: »Matschig ist das!« Aber trotzdem lecker, muss er zugeben.

Wo sind wir hier hineingeraten? In einen Kochkurs? Weit gefehlt. Es handelt sich um das Treffen der »Genussgruppe« einer Psychiatrischen Tagesklinik, in diesem Fall der Danuvius-Klinik in Ingolstadt. Die Patienten kommen einmal pro Woche zusammen, um ihre Sinne zu schulen: Jedes Treffen ist einem Sinn gewidmet, das Programm umfasst also fünf Stunden. In jeder Sitzung erforschen die Teilnehmer passendes »Material« - heute Obst, Gemüse und Schokolade -, tauschen Erfahrungen zum Thema aus, erfahren Wissenswertes und sprechen allgemein über Genuss.

Sieben Regeln für mehr Genuss
  • Genuss braucht Zeit: Damit sich eine positive Emotion entfalten kann, muss man sich Zeit nehmen. Hektik und Stress wirken kontraproduktiv.
  • Genuss muss erlaubt sein: Man sollte sich angenehme Tätigkeiten auch zugestehen, um Freude daran zu haben.
  • Weniger ist mehr: Es ist besser, sich auf Weniges zu beschränken und sich dafür umso mehr darauf zu konzentrieren.
  • Genuss geht nicht nebenbei: Man sollte sich schöne Situationen schaffen, um zu genießen.
  • Aussuchen, was dir guttut: Was Genuss bereitet, ist individuell verschieden.
  • Ohne Erfahrung kein Genuss: Um herauszufinden, was guttut, muss man Erfahrungen sammeln.
  • Genuss ist alltäglich: Auch Routinen lassen sich so gestalten, dass sie genüssliche Momente enthalten. ast

»Teilnehmen kann eigentlich jeder, der in einer einigermaßen stabilen Verfassung ist«, sagt Andrea Hunner, pflegerische Leiterin der Klinik. Die Diagnose spielt keine Rolle, besondere Kenntnisse oder Erfahrungen braucht niemand. »Die Patienten profitieren davon, dass es hier mal nicht um ihre Krankheit, sondern um ihre gesunden Anteile geht.« Ebendas ist der Kern des Genussprogramms: Das Verfahren soll positives Erleben fördern und die eigenen Ressourcen stärken. Die heutige Einheit ist dem Schmecken gewidmet und kreist um Fragen wie: Wie fühlen sich die Proben im Mund an? Wonach schmecken sie? Was mögen die Teilnehmer überhaupt?

Auf einmal wird es in der Gruppe lebendig. Wer kennt die »Harry-Potter-Jelly-Beans« mit so grässlichen Geschmacksrichtungen wie Meerrettich oder Erbrochenem? Wie ist es überhaupt, wenn etwas anders schmeckt als erwartet? Ein Patient mit Baseballkappe, der sich bislang zurückgehalten hat, empfiehlt Vanilleeis mit grünem Pfeffer. Mohneis, findet jemand anderes, sei köstlich - nie hätte er das gedacht. »Aber ich wüsste nichts, was besser schmeckt als ’n Obatzten!«, fügt er mit Verweis auf die bayerische Käsespezialität hinzu, was für Lacher sorgt.

Das Angebot der Klinik orientiert sich an dem Therapieprogramm »Kleine Schule des Genießens«, das die Psychologen Rainer Lutz und Eva Koppenhöfer vor rund 40 Jahren entwickelt haben. Darin haben sie sieben Regeln (siehe Kasten) formuliert, die die Genussfähigkeit fördern sollen. Inzwischen gibt es an vielen Einrichtungen - etwa psychosomatischen Fachkliniken, Reha- und Schmerzkliniken - Gruppen, die danach arbeiten. In der Regel ist das Genussprogramm Baustein eines Behandlungsplans. Die Teilnehmer lernen, sich auf eine angenehme Wahrnehmung zu konzentrieren und dadurch eine positive Erfahrung zu machen. Im Sinne der Salutogenese geht es darum, gesunde Anteile zu stärken. Gesundheit ist für Lutz nämlich nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit: Er geht davon aus, dass jeder Mensch gleichzeitig über gesunde und kranke Verhaltensweisen verfügt.

Das Genusstraining habe er zufällig entdeckt, berichtet der Psychologe, der bis 2008 Verhaltenstherapie und Verhaltensdiagnostik an der Universität Marburg unterrichtete. »Das war eigentlich eine Spielerei.« Ausschlaggebend war demnach die Zusammenarbeit mit Eva Koppenhöfer, die damals schwer depressive Patienten in einer psychiatrischen Klinik betreute. Sie litten unter anderem an Anhedonie, also an der Unfähigkeit, Lust und Freude zu empfinden. »Ich wollte ihnen etwas Gutes tun«, erzählt Lutz.

In den Therapiepausen empfahl er ihnen, spazieren zu gehen und dabei auf ihre sinnlichen Wahrnehmungen zu achten. Anschließend wurde darüber gesprochen. »Mich beeindruckte, welchen Ausgleich die Patienten bei diesen Spaziergängen erlebten und wie bedeutungsvoll es für ihr Wohlbefinden war, zwischen den sehr belastenden Therapiestunden ihre Sinne auf positive Gegebenheiten richten zu können«, schreibt der Psychologe in dem Therapiemanual »Kleine Schule des Genießens«.

Besonders gut reagieren die Teilnehmer meistens auf die Gruppenstunde zum Thema Riechen, wie Lutz berichtet. Dabei dürfen sie an verschiedenen Materialien - etwa Blumen, Gewürzen oder Früchten - schnuppern und sich aussuchen, was ihnen zusagt. »Dass sie dabei selbst aktiv werden, ist ein ganz zentraler Punkt im Programm«, erklärt der Psychologe. Dabei spielt es eine Rolle, dass Gerüche eng mit Gefühlen und Erinnerungen verbunden sind. Zimt- oder Nelkenduft etwa assoziieren viele Menschen mit Weihnachten, was oft angenehme Bilder weckt und zum Erzählen anregt. »Meistens kann man schon im Laufe der ersten Stunde beobachten, dass depressive Menschen lachen«, sagt Lutz. Das Programm lasse sich aber nicht nur hier, sondern bei allen Diagnosen einsetzen.

Die Genusstherapie hat sich vor allem in der Praxis bewährt: Lutz zufolge gibt es viele positive Erfahrungsberichte und Beobachtungen, unter anderem in Bezug auf traumatisierte Patienten, Schmerzpatienten, Suchterkrankungen oder Schizophrenie. Das Programm lässt sich aber auch präventiv - etwa zur Vorbeugung von Übergewicht, Essstörungen und Alkoholmissbrauch - einsetzen. »Eigentlich kann jeder von den Genussregeln profitieren«, meint der Psychologe.

Auch die Gruppe in der Danuvius-Klinik bespricht die Regeln, die auf einem Plakat im Gruppenraum aufgelistet sind, zum Schluss der Stunde. »Da fehlt etwas, nämlich: Genuss braucht Mut!«, meldet sich ein Teilnehmer und erzählt von einem stinkenden Stück Limburger Käse, in das er nur mit größter Überwindung beißen konnte. »Dann war er aber lecker.« Wieder wird gelacht. Später fügt der Käsefan, diesmal ernst, hinzu: »Genuss ist, das Schöne im Alltag wahrzunehmen.« Nach dem Treffen plaudern die Teilnehmer weiter - über Genüsse, Erfahrungen und alles Mögliche. »Die Genussgruppe hat bei mir auch Neugier und Forscherdrang geweckt«, berichtet eine Patientin, die an Depressionen leidet. »Die Stunden regen einen dazu an, in Aktion zu kommen - auch wenn gerade nicht so der Antrieb da ist.«

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