• Kultur
  • »Gastarbeitermonologe« von Mesut Bayraktar

Die leeren Stühle

In Hamburg wurden in einer szenischen Lesung Mesut Bayraktars »Gastarbeitermonologe« präsentiert

  • Kamil Tybel
  • Lesedauer: 3 Min.

Anlässlich des 60. Jahrestages des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens wurden die »Gastarbeitermonologe« von Mesut Bayraktar am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg dargeboten. Die in Kooperation mit der Föderation Demokratischer Arbeitervereine Hamburg (DIDF), der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg und dem MUT!-Theater in der Hansestadt entstandene Produktion wurde von Regisseur Michael Weber szenisch eingerichtet.

Aus vier Perspektiven wird die soziale Realität der sogenannten Gastarbeiter verdichtet dargestellt, jener Frauen und Männer, ohne die es in der BRD Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum wohl kaum in der erlebten Weise gegeben hätte. Ihre Geschichten sind geprägt von Ausgrenzung, Rassismus, von Scham, Hoffnung, Heimweh, von sozialer Gewalt und dem Kampf um Anerkennung und Würde. In dieser Hinsicht sind die Monologe eine Gegendarstellung zum marktkonformen Narrativ einer erfolgreichen Migrationsgeschichte, die an den konkreten Lebensumständen ihrer Akteure nicht interessiert ist. Aus Perspektive der Herrschenden war das Anwerbeabkommen ein Geschäftsvertrag und die Gastarbeiter eine Ware, die man mit bürokratischem Kalkül in Zahlen aufgewogen hat.

Das Bühnenbild von Sanghwa Park greift dieses Motiv geschickt auf, indem die Figuren versetzt auf vier Reihen orangefarbener Stühle platziert sind, die an den Wartebereich eines Amtes erinnern und als eine Verkörperung des Verhältnisses von Verwaltung und Verwalteten interpretiert werden können. Im Hintergrund stehen Kulissenteile, die den Eindruck erwecken, als würden sie darauf warten, aufgebaut oder weggeschoben zu werden. Man kann sie als Forderung nach einem Platz für die Geschichte türkischstämmiger Migranten als Teil von Deutschland lesen, der ihnen bis heute nicht eingeräumt wurde.

Zweifelsohne hat Bayraktar einige Recherchen für seine Monologe betrieben, was sich in den überzeugenden Biografien seiner Figuren widerspiegelt. Überhaupt sind sie umsichtig gewählt. So erfahren wir nicht nur etwas aus dem Leben der Gastarbeiter in Deutschland, vom wilden Streik bei Ford 1973 oder von einer Fließbandarbeiterin in einer Lebensmittelfabrik, sondern auch etwas über die Verhältnisse der zurückgelassenen Familien in der Türkei, denen eine Einwanderung aufgrund der deutschen Gesetzgebung lange Zeit verwehrt geblieben ist.

Eindrucksvoll gelingt es Julia Casper in der Rolle von Gül die damit einhergehende Sehnsucht und Einsamkeit dem Publikum erfahrbar zu machen - durch ein kurzes Lied, das sie ihrem Ehemann in Deutschland auf eine Kassette aufzeichnet. Ebenso interessant ist die Figur Bettina, die in der Personalabteilung einer Fabrik angestellt ist und von ihrer Liebschaft mit dem Arbeiter Mehmet erzählt. Ihre Geschichte behandelt die menschenfeindlichen Auswüchse von Rassismus, der sich auch in Leben und Beziehungen Einheimischer mischt.

Webers szenische Einrichtung verdient Lob. Zu keinem Zeitpunkt langweilen die Monologe, dabei birgt ihre epische Form, die eine Brücke zu schlagen sucht zwischen Gestern und Heute, ebenjene Gefahr. Indem er aber Bayraktars Text, die Erzählungen der Figuren ineinanderschachtelt, bleibt die Inszenierung von Anfang bis Ende lebendig.

Unterstützend wirkt dabei auch der Chor, der von den jeweils drei Darstellern, die nicht im Einsatz sind, gesprochen wird. Er findet hier als dramatisches Element nur an Stellen der direkten Rede Gebrauch, wodurch das Gesagte einen eigentümlichen und verfremdenden Nachdruck erhält.

Weber verstärkt diese Effekte durch drei dokumentarische Filmmontagen aus der Zeit des Anwerbeabkommens, die von Svenja Hauerstein zusammengestellt und durch musikalische Überarbeitungen von Kaptan Bayraktar ergänzt wurden. Sie sind gut platziert und erinnern daran, dass die leeren Plätze auf den orangefarbenen Sitzstuhlreihen auf der Bühne in Wahrheit nicht leer sind - und die vier Figuren auf der Bühne repräsentativ für Tausende.

Nächste Vorstellung: 30.1. in der Immanuelkirche in Hamburg-Veddel.

www.schauspielhaus.de

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