»Wir befinden uns in einer Postdemokratie«

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis skizziert eine gesellschaftliche Dystopie, gegen die er sich auflehnt

  • Marta Moneva
  • Lesedauer: 10 Min.

Der neue deutsche Finanzminister Christian Lindner hat erklärt, dass die griechische Sparpolitik in der Eurokrise als Modell für Deutschland dienen könnte. Was halten Sie davon?

Er hat recht, aber ich habe eine besondere Theorie über die Austerität in Griechenland und Deutschland - das erste Land, in dem Austerität praktiziert wurde, war nicht Griechenland, sondern Deutschland unter dem Kanzler Gerhard Schröder. Als die Krise ausbrach, war es zunehmend der damalige Finanzminister Peer Steinbrück, der die Schuldenbremse und massive Austerität einführte. Dann, ein Jahr später, 2010, ging Griechenland pleite, und die Austerität wurde von Deutschland nach Griechenland exportiert. Was in Deutschland begann und über Griechenland die Runde in Europa machte, kommt nun nach Deutschland zurück.

Und Lindner verfolgt eine ähnliche Politik wie Wolfgang Schäuble (von 2009-2018 Bundesfinanzminister Anm. d. Red.), der als Libertärer einfach nur die Märkte befreien und in Deutschland Thatcher’sche Austerität betreiben wollte. Er wollte den Grexit, er wollte sogar Italien rauswerfen und den ursprünglichen Plan der Bundesbank umsetzen, der eine gemeinsame Währung für die Überschussländer Deutschland, Österreich, Holland, Belgien, vielleicht Polen, die Slowakei und die Tschechische Republik vorsah.

Interview

Yanis Varoufakis gilt als ein Popstar der Finanzen. Der Wirtschaftswissenschaftler war 2015 griechischer Finanzminister, als der Staat tief in der Schuldenkrise steckte und mit der Europäische Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank über umfangreiche Hilfen verhandelte.

Doch er überwarf sich mit dem damaligen griechischen Premierminister Alexis Tsipras und gründete die Bewegung Diem25. Marta Moneva sprach mit dem 60-Jährigen über die gegenwärtige Krise der Europäischen Union, die Macht der Europäischen Zentralbank und sein im Herbst erschienenes Buch »Ein Anderes Jetzt«. 

Apropos Bundesbank, ihr Präsident Jens Weidmann ist, wie bekanntgegeben, aus persönlichen Gründen zurückgetreten. Joachim Nagel ist sein Nachfolger. Was erwarten Sie von ihm?

Die Gründe für den Rücktritt waren nicht persönlich. Weidmann hat seinen Krieg gegen die Europäische Zentralbank verloren. Wenn ich mich richtig erinnere, war es 2012, als Jens Weidmann vor den europäischen Gerichten einen 120-seitigen Bericht gegen die EZB und ihren damaligen Chef Mario Draghi einreichte. Er hat jede Schlacht im EZB-Rat verloren.

Die neue deutsche Regierung setzt Angela Merkels Politik fort. Jens Weidmanns Front - Mario Draghi und Angela Merkel als Verbündete - wird nun von Olaf Scholz und der aktuellen EZB-Vorsitzenden Christine Lagarde fortgesetzt. Weidmann ist zurückgetreten, weil er keine Chance hatte, die EZB davon abzuhalten, den Bankrott Italiens und den Bankrott des Großkapitals in Deutschland und anderswo ständig zu verschleiern. Joachim Nagel wird mit Scholz und Lagarde gehen. Er ist ein Zögling der Bundesbank, also wird er nicht glücklich darüber sein, aber er wird keinen Krieg führen. Er ist kein Kämpfer, wie es Jens Weidmann war.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in Griechenland ein?

Derzeit haben wir eine problematische Kombination in Griechenland aus neuem Faschismus und Neoliberalismus, die sehr schnell alles umstürzt, was wir bis Anfang 2015 erreicht hatten.

Die Umwandlung des Nein beim Referendum in ein Ja in der Nacht des 5. Juli 2015 durch den Premierminister Alexis Tsipras, als er sich mit den Führern der Rechten verschwor, um das Ergebnis zu ändern ...

... Sie waren zu diesem Zeitpunkt griechischer Finanzminister und standen für das Veto Griechenlands gegen die Austeritätspolitik Europas. Am 5. Juli 2015 bestätigte ein Referendum diese Haltung, eine Mehrheit in der Bevölkerung sprach sich gegen den Entwurf der Europäischen Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der EZB für einschneidende Reformen für Griechenland aus. Aber sie kamen doch.

Ja, das war wie ein Nadelstich, der einen wichtigen Ballon voller progressiver Energie zum Platzen brachte. Viele Menschen gingen nach Hause und beschlossen, sich nie wieder politisch zu engagieren. Andere waren verloren, psychologisch für immer geschädigt. Viele von ihnen waren leichte Beute für Nationalismus und Rassismus.

Die Menschen, die bei Syriza geblieben sind, erleiden eine fast altgriechische Tragödie in dem Sinne, dass sie tief im Inneren wissen, dass das, was ihre Partei tut, abscheulich ist. Hinzu kommt die Giftigkeit, mit der die Oligarchie die Gelegenheit ergriffen hat, sich zu rächen, nachdem sie damals in den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 die Kontrolle verloren hatte. Sie wollen nicht einmal den Hauch einer Möglichkeit zulassen, sich jemals wieder in dieser Lage zu befinden.

Ist die Lage außerhalb Griechenlands hoffnungsvoller?

Nein, ich bin entsetzt über die Art und Weise, wie der Klimagipfel in Glasgow abgelaufen ist. Die Cop26 zum Klimawandel war ein Fiasko. Es ist, als hätte die Menschheit ihre letzte Chance vertan. In diesem Zusammenhang beobachtet man die völlige Auslöschung der Linken in ganz Europa, und ich denke, dass wir hier in Griechenland dafür verantwortlich sind, denn 2015 waren unsere deutschen, französischen, portugiesischen und spanischen Genossen von der Aussicht beflügelt, dass wenigstens ein Land Nein zur Oligarchie sagen könnte. Seitdem macht sich die Linke überall irrelevant.

Sehen Sie Ihre Initiative Diem25 auf einem Weg zu einer Gegenbewegung?

Wir haben unsere Bewegung Diem25 in ganz Europa konsolidiert. Unsere politische Partei hier in Griechenland, Mera25, hat es geschafft, sowohl ihre langfristige Strategie als auch ihre Ideologie zu überdenken und sich weiter nach links zu bewegen. Ich persönlich hatte eine Art Erleuchtung: Ich habe jetzt anderthalb Jahre lang nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das Jahr 2008 die Welt auf die gleiche Weise verändert hat, wie das Jahr 1991 es getan hatte, als es die Linke in einem real existierenden Kommunismus, Sozialismus und sogar einer Sozialdemokratie zerschlug. Davon hat sie sich nie erholt.

Inwiefern gab es mit der Finanzkrise 2008 einschneidende Veränderungen?

2008 begann der Anfang vom Ende des Kapitalismus. Ich vertrete die besonders unter Linken umstrittene Ansicht, dass das, was wir jetzt haben, kein Kapitalismus mehr ist. Es ist eine neue Form des Feudalismus, der sich strukturell, qualitativ und dialektisch vom Kapitalismus unterscheidet, und er ist viel schlimmer als der Kapitalismus. Wir, die Linke, müssen in Betracht ziehen, dass der Feind nicht mehr derselbe ist, sondern ein mutierter. Ich denke, es ist ein anderes System. Der Kapitalismus hat viele verschiedene Varianten gehabt, aber 2008 ist dieses Modell gestorben, weil man versucht hat, die Banken durch Zentralbankgeld zu retten, und weil die digitalen Technologien das Primat des Profits auf der einen Seite und der Märkte auf der anderen Seite beendet haben.

Was für Auswirkungen hat das?

Bis vor Kurzem war der private Profit, die Kapitalakkumulation, wie Marx es nannte, die treibende Kraft des Systems. Ich glaube, das ist nicht mehr der Fall. Früher fand die Ausbeutung über Märkte statt, heute über Plattformen, über digitale Lehen wie Amazon, Google, Facebook. Natürlich gibt es überall Kapitalismus, aber ich denke, das neue Spiel ist das, was ich Technofeudalismus nenne: Die treibenden Kräfte sind nicht Profite, sondern Staatsgeld, Zentralbankgeld und digitale Plattformen. Dies führt zu einer Dystopie. Die Linke hat noch nicht einmal angefangen, darüber nachzudenken, wie sie sich dem entgegenstellen kann. Das müssen wir aber.

Ist das der Grund, warum Sie das Buch »Ein Anderes Jetzt« geschrieben haben?

Ja. Mit dem Buch verfolge ich zwei Absichten. Erstens erkläre ich, in was für einer Welt wir jetzt leben. Ich sage, dass wir nach 2008 diese Art von Technofeudalismus haben, der eine Dystopie schafft. Und zweitens versuche ich die wichtigste Frage zu beantworten, die wir als Linke nie wirklich beantwortet haben: Wie würde der Sozialismus aussehen? Wie können wir ihn uns vorstellen? Ich habe versucht, eine Skizze zu schreiben, wie eine freie, gerechte, sozialistische Marktwirtschaft aussehen könnte.

Sie waren Wirtschaftswissenschaftler, bevor Sie 2015 in die Politik gingen. Jetzt erklärt Ihre Bewegung Diem25: »Die EU wird demokratisiert werden. Oder sie wird sich auflösen.« Welche Veränderungen sind notwendig, um die EU zu retten, die sich zweifellos in einer tiefen Krise befindet?

Unser ursprünglicher Slogan erwies sich als prophetisch. Wir haben es nicht geschafft, Europa zu demokratisieren, und es zerfällt bereits, Großbritannien ist raus. Wir haben nicht mehr nur ein Nord-Süd-Gefälle, sondern auch ein Ost-West-Gefälle. Deutschland löst sich auf, Frankreich auch. Wir befinden uns in einer Postdemokratie. Deshalb haben wir jetzt unseren Slogan geändert und sind dabei, unser Wahlprogramm zu ändern. Unser neuer Slogan lautet: »Europa wird demokratisiert werden. Sobald die Oligarchie gestürzt ist.« Mit anderen Worten: Erwarten Sie keine Demokratisierung, wenn wir nicht die multinationale Oligarchie stürzen, die Europa regiert.

Jetzt sind wir radikaler, revolutionärer und rebellischer geworden. Ich glaube, dass es 2015, als ich in der Regierung war, einen Moment gab, in dem Europa eine Art sozialdemokratischen New Deal hätte machen können wie Franklin D. Roosevelt 1933 in den USA. Wenn wir darauf bestanden hätten, wenn Tsipras und ich zusammengeblieben wären und Nein zum Bailout gesagt hätten, dann hätten sie uns entweder aus dem Euro werfen müssen, und ich habe keinen Zweifel, Italien wäre auch raus gewesen. Dann wäre der Euro weg gewesen, und wir hätten die revolutionären Veränderungen sowieso gehabt. Oder sie hätten ein Abkommen mit uns akzeptieren müssen.

Sie erwähnen in Ihrem Buch auch die Pandemie. Gibt es einen Unterschied zwischen der Coronakrise und der Eurokrise?

Der Unterschied ist, dass die Eurokrise endogen war, während die Coronakrise exogen ist. Die Eurokrise entstand in den Eingeweiden, im Körper der Gesellschaft der Eurozone, in unserem Bankensystem, auf den Arbeitsmärkten und im Unternehmenssektor. Sie war eine Krankheit, die wir selbst in unserem Organismus verursacht haben, während die Coronakrise wie ein Asteroid, ein Komet war, der von außen auf die Erde traf. Ich glaube jedoch nicht, dass es sich um zwei verschiedene Krisen handelt. Der Grund, warum Corona eine signifikant negative Auswirkung auf die Volkswirtschaften der Eurozone der EU hatte, ist, dass die Architektur der Eurozone bereits sehr schwach war. Die Krise war bereits da, sie begann 2008 und ging nie weg. Ich möchte daran erinnern, dass im Jahr 2019, also vor Corona, die deutsche Industrieproduktion bereits rückläufig war. Wir befinden uns in einer neuen Phase der Rezession, die 2008 begann.

Wenn man darüber nachdenkt, war das Einzige, was den Euro gerettet hat, die Allianz zwischen Merkel und Draghi, über die wir bereits gesprochen haben. Merkel gab Draghi grünes Licht, um Unmengen von Geld zu drucken und den Finanzsektor und Italien zu retten. Und das hat er getan, aber er hat auch gigantische Probleme geschaffen. Europa hat gelitten. Die EZB bot der Deutschen Bank Geld zu negativen Zinssätzen an, in der Hoffnung, dass die Deutsche Bank das Geld dann an Unternehmen weitergeben würde, die dann investieren und Arbeitsplätze schaffen würden usw.

Das funktionierte aber nicht.

Nein. Die Deutsche Bank, Societe Generale, Santander und die anderen Banken haben das Geld nicht an kleine oder mittlere Unternehmen verliehen, weil sie Angst hatten, es zu verlieren. Sie riefen die großen Unternehmen an - Volkswagen, Alstom, Siemens, Google und Facebook -, die das Geld nicht brauchten, weil sie bereits Ersparnisse hatten. Also nahm Siemens das Geld zu einem Zinssatz von null Prozent, investierte es aber nicht, sondern brachte es an die Börse und kaufte Siemens-Aktien. Die Aktien stiegen, die Gehälter der Siemens-Direktoren stiegen, sie kauften mehr Wohnungen in Berlin, Frankfurt und überall. Die Immobilienpreise stiegen, die Ungleichheit nahm zu, und die kleinen Leute litten.

Dann kam das Coronavirus, und was haben sie gemacht? Das Gleiche: Die EZB druckte noch mehr Geld, sie gab es denselben Leuten und nur ein bisschen den kleinen Leuten, um sie während der Pandemie am Leben zu erhalten. 500 Euro hier, 800 Euro dort, aber die Ungleichheit stieg viel schneller. Im Grunde hat die Pandemie also die bereits bestehende Eurokrise noch verstärkt.

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