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Die weißen Toten

2021 sind in Italien über 1000 Menschen während ihrer Erwerbsarbeit gestorben

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

In den ersten zehn Monaten im Jahr 2021 sind in Italien 1071 Menschen bei Verrichtung ihrer Arbeit gestorben: das sind über drei tote Arbeitnehmer*innen pro Tag. Bei jedem tödlichen Arbeitsunfall wiederholen sich die Verlautbarungen der höchsten Instanzen des Landes, angefangen beim Staatspräsidenten bis hin zum Papst. Sie bezeichnen das Phänomen als »skandalös«, »unerträglich« oder »beschämend«, aber es verändert sich nicht wirklich etwas.

»Ohne eine neue Kultur, die das Leben der Menschen und die Qualität der Arbeit über die Profitgier stellt«, erklärte jüngst Maurizio Landini, Generalsekretär der größten italienischen Gewerkschaft CGIL, »wird jedes Wirtschaftswachstum auch mehr Unfälle und mehr Versäumnisse beim Arbeitsschutz produzieren«. Betroffen sind praktisch alle Wirtschaftsbereiche. Die meisten tödlichen Arbeitsunfälle ereignen sich in der Industrie, gefolgt von Landwirtschaft und öffentlichen Dienstleistungen. Besonders betroffen sind das Bau- und Transportwesen sowie die Logistik. Geografische Unterschiede gibt es kaum – der hoch industrialisierte Norden ist genauso vertreten wie der Süden Italiens, wo die Landwirtschaft besonders verbreitet ist.

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Dieses Jahr ist die Zahl der gestorbenen weiblichen Arbeitskräfte leicht zurückgegangen, was aber vor allem daran liegt, dass Frauen stärker unter der Corona-Krise gelitten und auch häufiger ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die »weißen Toten« findet man bei italienischen Arbeitskräften wie bei Migranten. Die Altersgruppen, die am stärksten betroffen sind, sind auf der einen Seite die jungen Arbeiter*innen ohne Berufserfahrung, und auf der anderen die Ältesten. In Süditalien ist sogar ein 91-jähriger Bauer gestorben, der seine magere Rente aufbesserte, indem er beim Beladen der Lastwagen half.
Wenn 1071 Tote schon als eine unglaubliche Zahl erscheint, liegt sie noch weit hinter dem realen Phänomen zurück. Denn in die offizielle Zählung gehen nur die Arbeitnehmer*innen ein, die in die Unfallversicherung einzahlen.

Es »fehlen« also die Männer und Frauen ohne reguläre Arbeitsverträge, die Selbstständigen und Scheinselbstständigen, allen voran viele Handwerker. Außerdem, merkt die CGIL an, werden auch weitere Kategorien »nicht gezählt«. Zum Beispiel Polizist*innen und Soldat*innen, aber auch Feuerwehrleute oder die Ehrenamtlichen im Katastrophenschutz oder beim »Roten Kreuz«, die nicht immer unfallversichert sind. Die Gewerkschaften schätzen deshalb, dass die reale Zahl der »weißen Toten« bei mindestens 1500, wenn nicht sogar 2000 liegt. »Unerkannt«, so eine Studie der CGIL, »bleiben die tödlichen Arbeitsunfälle vor allem in der Landwirtschaft und die, die sich auf dem Weg zur oder von der Arbeit ereignen«. Die Gewerkschaft unterstreicht, dass selbst das Arbeitsministerium diese Daten nicht hat und nur auf die »offiziellen« Zahlen der Unfallversicherung verweist.

Ebenfalls unklar ist zudem, wie viele der Menschen, die in den vergangenen Monaten an Covid gestorben sind, sich am Arbeitsplatz angesteckt haben. Die Gewerkschaften schlagen seit Monaten Alarm. Auch bei dem letzten Generalstreik, zu dem CGIL und das Gewerkschaftsbündnis UIL für den 16. Dezember aufgerufen hatten, stand das Thema der tödlichen Arbeitsunfälle mit im Vordergrund.

Und vor wenigen Tagen, als in Turin ein Baukran umfiel und drei Arbeiter in den Tod riss, waren die Worte von CGIL-Chef Maurizio Landini klar: »Wir nehmen an, dass dies noch ein Massaker auf dem Bau ist, das mit den Arbeitszeiten und -modalitäten zu tun hat. Die Eile und die zu knappen Zeiten erhöhen die Risiken. Und der Wirtschaftsaufschwung, den Italien derzeit erlebt, hängt eng mit der Schwarzarbeit zusammen, da die Unternehmen mehr Aufträge annehmen, als sie eigentlich bewältigen können.« Derzeit, so der Gewerkschaftssekretär, werden die Arbeitszeiten nicht mehr eingehalten und Arbeitsschutz scheint Luxus zu sein.

Maurizio Acerbo, Generalsekretär der Partei »Rifondazione Comunista – Sinistra Europa« (Kommunistische Neugründung – Europäische Linke) ist noch expliziter: »Die Zahlen, die jetzt bekannt wurden, sind Zahlen wie aus einem Krieg. Aus einem Krieg gegen die arbeitenden Klassen und sie sind die ›Kollateralschäden‹ der neoliberalen Politik.«

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