Die ersten Transporte

Von der Wannsee-Konferenz zum industriellen Massenmord in Auschwitz

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Vernichtungslager Auschwitz wurde zum Synonym für den millionenfachen Mord der Nazis an den europäischen Juden.
Das Vernichtungslager Auschwitz wurde zum Synonym für den millionenfachen Mord der Nazis an den europäischen Juden.

In diesem Jahr, im 77. nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee und acht Dezennien nach der berüchtigten Wannsee-Konferenz, auf der 15 hochrangige Vertreter der NS-Reichsregierung und der SS unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich, Chef des »Sicherheitsdienstes« (SD), die geplante Ermordung von insgesamt elf Millionen Juden Europas im Detail, mit Zuständigkeiten und technischen Abläufen beraten hatten, widmet sich die Gedenkstätte bei Oświęcim den ersten Transporten jüdischer Menschen im Frühjahr 1942 in diese deutsch-faschistische Todesfabrik.

In dem auf Befehl von Reichsführer SS Heinrich Himmler ab April 1940 errichteten Lager, das zum Synonym für den Holocaust werden sollte, hatte man bereits im Sommer 1941, kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion, an sowjetischen Kriegsgefangenen verschiedene Methoden der Tötung mehrerer Menschen zeitgleich »erprobt«, darunter mittels Vergasung. Lagerkommandant Rudolf Höß hatte von Himmler die Anweisung erhalten, Wege und Mittel für eine möglichst rasche Eliminierung von Juden zu finden. Die ersten »Ergebnisse« waren dann ein halbes Jahr später unter anderem Thema auf der Wannsee-Konferenz, von den anwesenden SS-Offizieren und Ministerialdirektoren emotionslos erörtert und abgewogen. Bereits kurz nach der »Besprechung mit anschließendem Frühstück«, wie die Zusammenkunft in der von Adolf Eichmann verschickten Einladung tituliert worden war, begann eine Vernichtungsmaschinerie bisher unbekannter Dimensionen anzulaufen.

Wann genau die massenweise Ermordung der Juden in Auschwitz durch Gas einsetzte, ist nicht exakt bekannt. Als am wahrscheinlichsten gilt der 15. Februar 1942. Für diesen Tag ist überliefert, dass als nicht mehr arbeitsfähig erachtete Häftlinge im Krematorium des Stammlagers umgebracht wurden. Dessen Kapazitäten reichten jedoch nicht mehr aus, als die »Reinigung des Ostlandes von Juden« gemäß den Beschlüssen der Wannsee-Konferenz generalstabsmäßig angegangen werden sollte. Die SS ließ deshalb in Birkenau zunächst zwei weitere Vernichtungsstätten bauen, das sogenannte weiße und das rote Haus.

Der polnische Auschwitz-Überlebende Wiesław Kielar wusste in seinem Buch »Anus Mundi« über die Morde im Frühjahr 1942 zu berichten, dass zunächst »Judentransporte« nur nachts ankamen und gar nicht er ins Lager, sondern »in ein Bauerngehöft geleitet wurden, das im Wäldchen Birkenau lag«. »Das Haus dort war so hergerichtet, dass jeweils eine größere Anzahl von Menschen getötet werden konnte. Nachdem ein Transport in der Gaskammer des scheinbar harmlosen Bauernhäuschens vergast war, musste eine kleine Gruppe junger, kräftiger Juden, vielleicht 20 Männer, die man am Leben gelassen hatte, die Leichen ihrer Leidensgenossen aus der Gaskammer holen und sie in Gruben in nächster Nähe des Häuschens verscharren. Waren so die Spuren des Verbrechens beseitigt, brachte man sie zu uns in den Krankenbau … Den Juden wurde gesagt, dass sie nach der erschöpfenden Arbeit Stärkungsspritzen erhalten sollten.« Doch stattdessen, so Kielar, der zu den ersten Häftlingen in Auschwitz gehörte, seien die jungen Männer mit einer Phenolspritze mitten ins Herz getötet worden.

Es waren vor allem Polen, die - obwohl auch sie zu den vorrangig ermordeten Häftlingsgruppen gehörten -, Zeugnis vom Grauen, von der Heimtücke und Perfidie der Mörder von Anbeginn ablegen konnten und ablegten. Zu jenen, die bereits die ersten Vernichtungsaktionen erlebt hatten, gehörte auch Witold Pilecki. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf seine Heimat hatte er die Widerstandsbewegung Tajna Armia Polska (Geheime Polnische Armee) gegründet und begab sich 1940 freiwillig in Gefangenschaft, um in Auschwitz Widerstand zu organisieren und die westlichen Alliierten über das dortige mörderische Geschehen zu informieren. 1943 floh er aus dem Lager und beteiligte sich ein Jahr später am Warschauer Aufstand, der von der Besatzungsmacht brutalst niedergeschlagen wurde und in der fast völligen Einäscherung der polnischen Hauptstadt mündete. Pileckis Leben endete tragisch. 1948 verurteilte ihn ein Gericht der Volksrepublik Polen im Zuge der Stalinisierung wegen angeblicher Spionage zum Tod. Erst 1990 wurde er rehabilitiert.

Über das perfide Vorgehen der Mörder in Auschwitz berichtete Pilecki nach dem Krieg, dass anfangs ahnungslose Neuankömmlinge zunächst »unter guten Bedingungen« zur Arbeit im Socken-, Kartoffel- und Gemüselager untergebracht wurden. »Sie hatten keinen Verdacht, dass dahinter ein entsetzlicher, hinterhältiger Gedanke steckte.« Dieser bestand darin, dass sie in Briefen an die Familien mitteilen sollten, »dass sie in Werkstätten arbeiten und dass es ihnen sehr gut gehe«. Die Öffentlichkeit sollte getäuscht werden.

Die Gedenkstätte Auschwitz verfügt über präzise Zahlen, wie viele Juden im Arbeitslager aufgenommen und wie viele gleich ins Gas geschickt wurden. Das Wissen verdankt sich den Häftlingen in der Schreibstube der SS, darunter dem späteren Direktor der Gedenkstätte Kasimierz Smoleń und dem späteren Kurator Tadeusz Szymański, die beide über gute Deutschkenntnisse verfügten und deshalb die Lagerregistration führen mussten, zum einen einkommende Transporte, zum anderen Häftlingsnummern zu notieren hatten. Nachdem 1942 die systematische Vergasung von Juden in Auschwitz begann, bestand eine ungeheure Differenz zwischen beiden Listen. Oft kamen 3000 bis 4000 Menschen täglich in Auschwitz an, aber nur ein paar Hundert wurden ins Stammlager aufgenommen und mit Nummern versehen. Den anderen war sogleich ein grausamer Tod im Gas bestimmt.

1944, als das Morden in Auschwitz seinem Höhepunkt zusteuerte, beschlossen Smoleń und Szymański, heimlich, unter den Augen der SS, noch präzisere Aufzeichnungen zu erstellen. Diese Listen dienten unter anderem in den 60er Jahren als Beweise in den vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozessen und waren zugleich Grundlage für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Holocaust. - Sie waren, sind und bleiben ein authentisches Zeugnis wider die Leugnung des Holocaust.

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