KZ-Prozess: Die Schuldfrage klären

Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma besucht Verhandlung gegen mutmaßlichen Wachmann des Lagers Sachsenhausen

Die ohnehin grausamen Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern verschlechterten sich Ende 1944, Anfang 1945 noch einmal dramatisch. Wegen des zum Erliegen kommenden Nachschubs an Häftlingskleidung befiehlt SS-Gruppenführer Richard Glücks im Oktober, Wintermäntel nur noch an bestimmte Außenkommandos auszugeben, die beispielsweise den ganzen Tag unter freiem Himmel arbeiten müssen. Später wird die Ausgabe von Mänteln, Mützen und Pullovern komplett untersagt. Auch die Essensrationen werden radikal gekürzt. Statt 375 Gramm Brot gibt es zuletzt nur noch 200 Gramm, statt Kohl- oder Rübensuppe nur Wassersuppe, zitiert Historiker Stefan Hördler am Freitag aus dem Bericht eines Zeitzeugen. Hördler ist Sachverständiger im Prozess gegen den 101 Jahre alten Josef S., dem vorgeworfen wird, als Wachmann im KZ Sachsenhausen Beihilfe zum Mord in mindestens 3518 Fällen geleistet zu haben.

Ort der Verhandlung ist eine Turnhalle an der Max-Josef-Metzger-Straße von Brandenburg/Havel, die zum Gerichtssaal umfunktioniert wurde. Am Freitag erscheint der hochbetagte Angeklagte in Trainingsjacke, geht wie immer am Rollator, von Sanitätern hereingeführt. Er bekommt Kopfhörer aufgesetzt, weil er nicht mehr gut hört.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Im abgeteilten Zuschauerbereich sitzt Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Ab und zu schaut Rose zu dem Angeklagten hinüber. Mal schaut er auch auf die Bildschirme, auf denen der Sachverständige Stefan Hördler historische Dokumente einblendet, mal einfach geradeaus oder vor sich auf den Boden. Es ist schwer auszuhalten, was Hördler berichtet. Auch und gerade an Romani Rose geht das nicht spurlos vorbei. Er kam 1946 zur Welt, aber 15 Angehörige seiner Familie wurden von den Nazis ermordet.

Am Donnerstag war es noch schlimmer. Da hatte Hördler über Menschenversuche der Faschisten informiert. Betroffen davon waren gerade auch Sinti und Roma. Pseudowissenschaftler haben deren Schädel vermessen, um Beweise für eine angebliche rassische Minderwertigkeit zu finden. Für solche Versuche wurden 30 oder 40 Menschen gnadenlos bestellt wie Stückgut.

Romani Rose ist nach Brandenburg/Havel gekommen, um sich sich die Verhandlung anzusehen. Journalisten befragen ihn dort. Er betont, dass es nicht sein Wunsch sei, dass so ein alter Mann wie Josef S. noch ins Gefängnis müsse. Doch unabhängig davon, wie viel Zeit vergangen sei, müsse die Schuld festgestellt werden. Das sei eine Frage der Gerechtigkeit. »Man hätte die Wachleute eigentlich schon früher anklagen müssen, denn sie waren die Ursache, dass die Menschen hinter Stacheldraht waren«, sagt Rose.

Den Antiziganismus, die Feindschaft gegenüber Sinti und Roma, haben die Nazis nicht erfunden, lediglich auf die Spitze getrieben. »Der Antiziganismus hat eine lange Tradition wie der Antisemitismus«, bedauert Rose. Sinti und Roma mussten jahrhundertelang Ausgrenzung erleben. Sie seien »von der Obrigkeit zu Sündenböcken gemacht worden«, erklärt der Zentralratsvorsitzende. Er stellt klar: »Nationalismus richtet sich nicht allein gegen unsere Minderheit. Er richtet sich gegen die Demokratie.«

An seiner Seite steht Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler. Er vertritt die 83 Jahre alte Sintezza Johanna W., deren Vater zu den Opfern des KZ Sachsenhausen zählt und die zu den zahlreichen Nebenklägern in diesem Prozess gehört. Johanna W. erscheint nicht persönlich. »Aber sie ist sehr froh, dass das Schicksal ihres Vaters hier verhandelt wird«, erzählt Daimagüler. »Es ist schön für sie zu wissen, dass ihr Vater nicht vergessen ist.« Dabei sei jedoch klar: »Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn das Leben zerstört ist.«

Johanna W. wohnt mit ihrer Familie im Ruhrgebiet. Ihr Anwalt hat sie dort besucht. »Sie leben in Armut, sie werden diskriminiert. Das ist bedrückend«, gesteht Daimagüler. Wenn heute in Bezug auf Romafamilien Schlagworte fallen wie Clan, dann zeige dies, wie diese Menschen noch immer abgewertet werden. »Da sehe ich Kontinuitäten, und die Betroffenen sehen das auch.« Daimagüler ist das Problem bewusst, dass der Angeklagte so alt, die Taten so lange her sind. Aber Beihilfe zum Mord verjährt nicht.

Der Anwalt nennt es »ungeheuerlich«, dass den Verbrechen nicht gleich nach dem Krieg nachgegangen wurde. Die Verfolgung der Sinti und Roma habe mit der Befreiung vom Faschismus nicht aufgehört. 500 000 haben die Nazis ermordet. Sinti und Roma werden bis heute drangsaliert, erklärt Daimagüler. Über den Prozess gegen Josef S. sagt er: »Es ist eine der letzten Gelegenheiten, bei der die Justiz noch einmal ehrlich in den Spiegel gucken kann, muss und sollte.« Denn die juristische Aufarbeitung erfolgte in den Nachkriegsjahren nicht so, wie es notwendig gewesen wäre. Der 54-jährige Daimagüler war Nebenklageanwalt im NSU-Prozess und hat einen Preis für sein Engagement für Chancengleichheit und gegen strukturellen Rassismus erhalten.

In der Verhandlung möchte Daimagüler vom Sachverständigen Stefan Hördler Näheres erfahren über die Behandlung der Sinti und Roma im berüchtigten KZ-Außenlager Klinkerwerk. Doch Richter Udo Lechtermann bittet, das zu einem späteren Zeitpunkt zu beantworten. »Ich verstehe, warum Sie das heute wissen wollen, aber das führt jetzt zu weit vom Thema weg.« Voraussichtlich im März werde es einen Termin zur Beantwortung noch offener Fragen geben, stellt Lechtermann in Aussicht. Daimagüler lenkt ein. Vielleicht könne das auch Astrid Ley beantworten. Sie ist die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen und für den 17. Februar geladen. Romani Rose nimmt befriedigt zur Kenntnis, wie souverän das Gericht den Fall verhandelt.

Josef S. bestreitet, KZ-Wachmann gewesen zu sein und in Sachsenhausen gedient zu haben. Es gab dort aber einen SS-Schützen Josef S., und es spricht viel dafür, dass der Angeklagte mit diesem identisch ist.

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