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Vom Kolonialismus zum Holocaust

In der Doku »Rottet die Bestien aus!« reist Regisseur Raoul Peck zu den Ursprüngen moderner Genozide

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Den Holocaust zu relativieren, ist einer der widerlichsten Pfade, auf die man sich besonders, aber nicht nur hierzulande historisch begeben kann. Wie einzigartig die Vernichtung von mehr als sechs Millionen Juden war, konnte man ja unlängst wieder im stocknüchternen ZDF-Drama »Die Wannseekonferenz« begutachten. Genozide kennt die Geschichte demnach zur Genüge. Dieser hier war jedoch nicht nur quantitativ, sondern qualitativ so singulär, dass sich Vergleiche aller Art verbieten. Das weiß auch Raoul Peck.

Er weiß es sogar besser als andere, die sich mit Vernichtungstheorie und -praxis unserer autoaggressiven Spezies beschäftigen. Als Filmemacher im rassengetrennten Brooklyn hat sich der Schwarze Regisseur schließlich schon seit den 60er Jahren mit Menschheitsverbrechen von Amerika bis Ruanda beschäftigt. Er hat Despoten porträtiert und Revolutionäre, den Kapitalismus oder Karl Marx. Er kennt sich privat wie beruflich bestens aus mit Ursache und Wirkung systemischer Machtgefälle. Falls jemand heikle Vergleiche anstellen darf, dann dieser weit gereiste Kosmopolit zum eigenen Spezialthema: Kolonialismus.

Der nämlich, so lautet die Kernthese seiner herausragenden Arte-Dokumentation »Rottet die Bestien aus!«, ist eine Wurzel unsagbarer Übel bis hin zum Nationalsozialismus. Fünf Bedingungen listet Peck für dessen Ausrottungsfuror auf: Fanatismus, Ausbeutung, Sklaverei, Eroberung und Verachtung. »Aber niemand«, wendet der Ich-Erzähler im ersten von vier Teilen ein, »weist darauf hin, dass in Hitlers Kindheit zum europäischen Menschenbild gehörte, dass minderwertige Rassen zum Aussterben verdammt seien«. Womit die Serie 600 Jahre zur Inquisition jener katholischen Kirche zurückreist, die ihre (Macht-)Geilheit bekanntlich bis heute bei aller Liebe gern an den Schwächsten auslässt. Hier, konstatiert der Regisseur, hat die irdische Ungleichbehandlung der göttlichen Schöpfung auf Basis von Hautfarbe und Herkunft ihren Ursprung. Hier, fügt er hinzu, nimmt also jener eurozentristische Irrglauben weißer Dominanz Fahrt auf, der über Kreuzzüge und Entdeckungsreisende direkt in den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts führt und von da weiter zum Holocaust.

Wobei die These gar nicht seine ist. Der Originaltitel »Exterminate All the Brutes« ist ein Zitat aus Joseph Conrads berühmter Erzählung »Herz der Finsternis«, womit Pecks (mittlerweile verstorbener) Freund und Kollege Sven Lindqvist eine Abhandlung über die imperialistische Eroberung Afrikas grundierte. Gemeinsam mit dem schwedischen Literaturhistoriker durchwühlt der US-amerikanische Regisseur vier Stunden lang den Abgrund einer destruktiven Gattung, die nirgends dunkler ist als dort, wo man sich im Glanz der Schöpfung wähnt: Europa und dessen fatale Steigerungsform, die USA.

Aus Sicht seiner eigenen Biografie, die den gebürtigen Haitianer Ende der 50er Jahre über Belgisch-Kongo und New York zum Filmstudium nach Berlin und retour brachte, wo sein Rassismus-Essay »I Am Not You Negro« 2016 fast den Oscar gewann, aus sehr persönlicher Perspektive also, sucht Peck weltweit Spuren jener Zeit, als Europa sich den Planeten buchstäblich Untertan machte. Während Teil eins Hitler und Holocaust in den Kontext der Vernichtung amerikanischer Ureinwohner stellt, findet Teil zwei demnach überall Blaupausen gezielter Massenvernichtung, deren »Erfolg« Teil drei erklärt.

»Die Kunst des Tötens auf große Distanz wurde zur europäischen Spezialität«, erklärt Peck aus dem Off und lässt hoch entwickelte Zivilisationen Afrikas, Asiens, Amerikas im Pulverdampf rücksichtsloser Invasoren untergehen. Wie so oft in den viermal 60 Minuten benutzt er dafür originelle Collagen, ein paar Schauspieleinlagen und sehr viel sehr stichhaltiges Archivmaterial von der historischen Gemäldegalerie bis zum tagesaktuellen Neonaziaufmarsch.

In keiner Sekunde ist die experimentelle Ästhetik selbstreferenziell, geschweige denn überflüssig. Die unfassbare Brutalität, mit der Europa und später die USA alle anderen Kontinente in Blut tauchen, bedarf moderner Bildsprachen, um im Effektgewitter der sozialen Netzwerke ein wenig Aufmerksamkeit zu erreichen. Und Raoul Peck bedient sie mit einer ebenso lehrreichen wie fesselnden Dokumentation, die zum Pflichtprogramm gehören sollte. Für Schulkinder, Historiker*innen, Geschichtsrevisionist*innen, ach - eigentlich für uns alle.

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