Das politische Tier in uns

Der Beginn eines Paradigmenwechsels und ein Vermächtnis: David Graeber und David Wengrow erzählen »Eine neue Geschichte der Menschheit«

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 8 Min.
Cowboys und Pferde, entspannt euch: Weder Ackerbau noch Viehzucht sind schuld am wachsenden Autoritarismus
Cowboys und Pferde, entspannt euch: Weder Ackerbau noch Viehzucht sind schuld am wachsenden Autoritarismus

Der Mensch ist ein erzählendes Tier. Wir verstehen uns als eine Spezies mit einer Geschichte. Und wir versuchen, Licht in unsere Vergangenheit zu bringen, indem wir sie uns als Geschichte erzählen. Das Problem ist nur, dass durch die Logik der Erzählung eine Geschichte auch dann noch schlüssig erscheinen kann, wenn sie völligen Unsinn enthält.

Die heute gängige Form, uns die Geschichte der Menschheit zu erzählen, lautet ungefähr: Einst lebten die Menschen in kleinen, egalitären Jäger- und Sammlergesellschaften. Doch irgendwann wurde die Landwirtschaft erfunden und ließ unsere Vorfahren in immer größeren Gemeinschaften sesshaft werden. Größere Menschenansammlungen aber bedürfen hierarchischer und bürokratischer Organisation, um zu funktionieren. So entstand also die eigentliche »menschliche Zivilisation« staatlicher Ordnung, in der wir - sei es in böser monarchisch/oligarchischer oder in guter demokratischer Form - bis heute leben.

Diese Geschichte klingt äußerst schlüssig und lässt sich in den gängigen Bestsellern von Jared Diamond oder Yuval Harari hervorragend verkaufen. Sie hat nur einen Haken: sie widerspricht der wissenschaftlichen Datenlage. Das jedenfalls behaupten der US-amerikanische Anthropologe David Graeber und der britische Archäologe David Wengrow in ihrem Buch »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit«. Zehn Jahre haben sie an dem Buch gearbeitet, Anfang 2020 endlich das Manuskript abgeschlossen - wenige Wochen vor Graebers überraschendem Tod. Wenn nun vielfach von einem »Vermächtnis« die Rede ist, so ist das durchaus angemessen.

Eigentlich wollten Graeber und Wengrow zur Hochphase der Occupy-Proteste 2011, an denen Graeber maßgeblich beteiligt war, ein Buch über die Ursprünge der sozialen Ungleichheit schreiben. Doch sie stellten bald fest, dass die Frage der »Ungleichheit« nicht nur äußerst schwer zu fassen ist (welche Ungleichheit genau und wieviel Ungleichheit ist noch in Ordnung?), sondern dass sie auch die entscheidende Frage verschleiert: warum es manchen Menschen gelingt, ihren materiellen Reichtum »in Macht über andere umzuwandeln«. Wirklich problematisch werde Ungleichheit nämlich vor allem dann, wenn sie zugleich die individuelle wie kollektive Freiheit beschränkt.

Graeber und Wengrow leisten hier zunächst eine fulminante Aufklärung der Aufklärung, indem sie freilegen, wie im Laufe des 18. Jahrhunderts die fundamentale Infragestellung der europäischen Gesellschaftsordnung infolge der Eroberung Amerikas in einer Weise abgeschliffen wurde, dass sie am Ende zu zwei Revolutionen führte (der amerikanischen 1776 und der französischen 1789). Beide schafften keineswegs Herrschaft ab, sondern ersetzen letztlich eine erbliche Aristokratie durch eine mehr oder weniger demokratisch gewählte, ökonomische Aristokratie. Sie verwandelten also die Frage nach der Freiheit in die nach der Ungleichheit.

Graeber und Wengrow nehmen dazu endlich wieder etwas beim Wort, was bei uns bis heute als eine Erfindung europäischer Aufklärer gilt: nämlich die damals so explizit wie eloquent formulierte Kritik amerikanischer Indigener an den europäischen Gesellschaften. Denn die im 17. und 18. Jahrhundert zu Hauf von Europäern verfassten Berichte und Dialoge mit indigenen Intellektuellen entstammen keineswegs ausschließlich der Fantasie ihrer Autoren, sondern haben einst tatsächlich stattgefunden - und die europäische Öffentlichkeit nachhaltig fasziniert und verstört. Und zwar so sehr, dass einige Konservative sich veranlasst sahen, der Kritik der Ureinwohner den Stachel zu ziehen, indem sie letztere als »edle Wilde« in die vermeintliche Imagination ihrer Gesprächspartner verbannten.

Es gibt jedoch kaum Grund zur Annahme, dass etwa die harsche Kritik des nordamerikanischen Wendat-Häuptlings Kondiaronk an den französischen Siedlern, die ihm der Baron de Lahontan - der Kondiaronk im heutigen Kanada begegnet war - in seinen ab 1703 erschienenen Dialogen in den Mund legte, nicht von Kondiaronk selbst stammte (der wohl auch tatsächlich Frankreich besucht hatte). Zu seinen Kritikpunkten an den Franzosen gehörten etwa deren ständige Streitsucht, mangelnde Solidarität sowie die blinde Unterordnung gegenüber Autoritäten, die sich nicht zuletzt aus materieller Ungleichheit ableitete. Dagegen fasst der Baron die indigene Sicht so zusammen: »Sie finden es unverantwortlich, dass ein Mensch mehr als ein anderer besitzen sollte und dass die Reichen mehr Respekt verdienen sollten als die Armen. Kurz, sie sagen, die Bezeichnung Wilde, die wir ihnen geben, treffe besser auf uns zu.«

Es dauerte dann etwa 50 Jahre, bis der junge Ökonom Jacques Turgot aus solcher Kritik den Schluss zog, dass die Freiheit und Gleichheit (übrigens auch der Geschlechter) der indigenen Völker letztlich nur ein Zeichen ihrer kulturellen Unterlegenheit sei. Würden Gesellschaften komplexer, seien Arbeitsteilung und Hierarchien unvermeidlich und die bedauerliche Armut einiger weniger die Voraussetzung für den Wohlstand aller. Damit legte Turgot in seiner Kritik der indigenen Kritik den Grundstein für eine Evolutionstheorie der Gesellschaft, die Jean-Jacques Rousseau in der Folge wieder mit der indigenen Kritik kurzschloss und ihr dadurch zum endgültigen Durchbruch verhalf (wobei ausgerechnet Rousseau einer der wenigen war, die damals ganz ausdrücklich nur ein Gedankenexperiment anstellten). Seitdem falle es auch linken Ungleichheitstheoretikern schwer, sich Alternativen zum Status quo vorzustellen, die nicht einer Regression auf eine niedrigere Kulturstufe gleichkämen, so Graeber und Wengrow.

Die Autoren wollen nun mit dieser deterministischen Evolutionstheorie aufräumen. Aus einer atemberaubenden Fülle neuester archäologischer Forschung aus aller Welt von der frühen Steinzeit bis zur Moderne leiten sie ab, dass zu (fast) allen Zeiten unsere Vorfahren weitgehend selbstbestimmt mit verschiedenen Gesellschaftsmodellen experimentierten. Lange vor den Imperien der Sumerer oder der Maya gab es in Mesopotamien und den Anden große urbane Zentren von teils mehreren zehntausend Menschen, die offensichtlich selbstverwaltet organisiert waren.

Keineswegs auch habe der Ackerbau, einmal erfunden, die Menschen unumkehrbar in die Knechtschaft gezwungen (wie die Vorstellung der »neolithischen Revolution« es bis heute suggeriert). Vielmehr dürfte der Umgang vieler Jäger und Sammler mit der Landwirtschaft ein spielerischer gewesen sein, der von ihr Gebrauch machte, wenn es gerade nötig schien oder sich anbot, und sie ansonsten links liegen ließ.

Ähnliches gilt für die Entstehung von Machtstrukturen. Viele Völker in Eurasien oder Nordamerika scheinen die meiste Zeit über in einem saisonalen Rhythmus gelebt zu haben, bei dem sich teils »autoritaristisch« organisierte Perioden etwa der Büffeljagd mit einem geradezu »anarchischen« Nomadentum abwechselten. Dabei dürften es saisonale Häuptlinge und Herrscher stets schwer gehabt haben, ihre Autorität über längere Zeiträume zu behaupten. Viel zu bedeutsam sei etwa in den meisten indigenen Gesellschaften die Freiheit der einzelnen gewesen, Befehle zu missachten, sich ihnen im Zweifel durch Ortswechsel zu entziehen oder auch ganz andere Ordnungsmodelle zu entwickeln - drei Prinzipien, mit denen Graeber und Wengrow das uramerikanische Freiheitsverständnis konkretisieren.

Wie aber, fragen sich die Autoren zuletzt, kam es irgendwann doch dazu, dass die Menschheit diese spielerische, auch im urban-technisierten Maßstab noch selbstbestimmt experimentelle Lebensweise dauerhaft mit der starren Ordnung autoritär-territorialer Herrschaft vertauschte, die sie bisher erfolgreich vermieden hatte - der wir aber seitdem auch noch in demokratisch genannten Staaten unterstehen? Wann ist aus den »Spielkönigen« tödlicher Ernst geworden? Die Antwort muss angesichts der Quellenlage vorerst bruchstückhaft bleiben. Es war wohl jedenfalls keine zwingende Folge der Landwirtschaft oder der Siedlungsgröße. Vielmehr scheint es irgendwann eine Verknüpfung (und Verwechslung) von herrschaftlicher Gewalt und religiöser Fürsorge gegeben zu haben, der es letztlich gelang, eine patriarchal-hierarchische Ordnung auf Dauer zu stellen, wie Graeber und Wengrow mit Blick auf das römische Eigentumsrecht aus zahlreichen Quellen schließen.

Die unglaubliche Fülle an Fakten und Folgerungen, die die Autoren in ihrem Buch ausbreiten, dürfte eigentlich kaum zu bändigen sein (was sicher auch ein Grund ist, warum kaum jemand unter all den verdienstvollen Archäolog*innen, auf deren Arbeit sie aufbauen, sich noch selbst an einer »Big History« versucht). Doch David Graeber und David Wengrow gelingt es auf beeindruckend erhellende Weise. Zudem mit einer stilistischen Verve, von der ein dreiköpfiges Übersetzerteam auch noch genug ins Deutsche hinübertragen konnte.

Dieses Buch ist bereits als der Beginn eines Paradigmenwechsels in den Geschichtswissenschaften beschrieben worden. Die Autoren unternehmen tatsächlich nicht weniger, als was ihr Titel verspricht: die Menschheitsgeschichte noch einmal neu zu schreiben. Sie widersprechen dem multiplen Mythos, diese Geschichte sei notwendig ein linearer Fortschritt, bei dem zunehmende Komplexität auch ein Mehr an Ungleichheit, Bürokratie und Freiheitsverlust im Rahmen einer staatlich organisierten Klassengesellschaft bedeutet, die wir nicht ohne kulturelle Rückschritte hinter uns lassen können.

Dagegen halten Graeber und Wengrow die Feststellung, dass die Menschheit zu fast allen Zeiten ihrer Existenz eine höhere soziale Kreativität und politische Selbstbestimmung an den Tag legte, als wir es uns heute selbst für unseren vermeintlichen Höhepunkt der Zivilisation auch nur vorstellen können.

Ihre Kritik will uns endlich (wieder) zu politischen Wesen machen, die souverän ihre gesellschaftliche Ordnung hinterfragen und gestalten. Sie will nicht zurück zum Menschen als vermeintlichem »edlen Wilden«, sondern zugleich zurück und vorwärts zu dem, was Aristoteles zoon politikon nannte: das politische Tier. Denn das ist es, was dieses Tier zum Menschen macht. Daran zu erinnern, ist gerade in Zeiten angebracht, da offensichtlich auch staatliche Autorität mit komplexen Problemlagen einigermaßen überfordert zu sein scheint.

David Graeber/David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, a. d. amerik. Engl. v. Henning Dedekind, Helmut Dierlamm und Andreas Thomsen, Klett-Cotta, 672 S., geb. 28 €.

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