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Umarmung am Stammtisch von Elbogen

Die Ausstellung »Naši Němci – Unsere Deutschen« in Ústí nad Labem erhellt böhmisch-deutsche Geschichte

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein zweisprachiges Motorrad von 1925: es hieß »Böhmerland«, bzw. »Čechia«
Ein zweisprachiges Motorrad von 1925: es hieß »Böhmerland«, bzw. »Čechia«

In der für deutsche Muttersprachler nicht eben leicht zugänglichen tschechischen Sprache gibt es immerhin einige Wörter, die vertraut wirken. »Štamgast« ist eines davon. Der Begriff zeugt davon, dass die legendäre tschechische Kneipenkultur lange Zeit auch von Menschen mit Deutsch als Muttersprache mitgeprägt wurden. So wie in einer Kneipe in der Kleinstadt Elbogen, dem heutigen Loket, die im Museum von Ústí nad Labem nachgebildet wurde.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

An der Wand hängt Werbung für »Schmelzers Elbogener Pumpernickel«. Über dem Tresen sind wechselnde Bilder der jeweiligen politischen Führer zu sehen. Die Besucher können sich an einen Tisch setzen, auf den Biergläser, Aschenbecher und gestikulierende Hände projiziert werden, und Gesprächen lauschen, die sich um Zugehörigkeit, Identität und Sprache drehen. »Já jsem Němec«, betont einer der »Štamgasty« energisch: Ich bin Deutscher.

Menschen, wie sie einst auch in derlei Schankwirtschaften saßen, sind »Naši Němci - Unsere Deutschen«. So lautet der Titel einer opulenten Ausstellung, die seit November im Museum der nordböhmischen Industriestadt an der Elbe zu sehen ist und sich dem viele Jahrhunderte währenden Zusammenleben von Tschechen und Deutschen auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik widmet. Ihre Kernthese ist durchaus kontrovers: »Wir wollen zeigen, dass die Präsenz der Deutschen meistens von Vorteil für die Entwicklung war«, sagt Kurator Tomáš Okurka bei einem Rundgang.

Zur Eröffnung, die am tschechischen Nationalfeiertag erfolgte, betonte der damalige Kulturminister Lubomír Zaorálek, Tschechen und Deutsche hätten gemeinsam »die Kultur dieses Landes geschaffen«. Das habe »über die Tragödie des 20. Jahrhunderts hinaus« Bestand.

Diese »Tragödie des 20. Jahrhunderts« prägt bis heute den Blick auf die Geschichte in der tschechischen Öffentlichkeit: das Münchner Abkommen von 1938; die Einverleibung der Republik in das NS-Reich; die Politik einer brutalen »Germanisierung« und Verbrechen wie die Auslöschung der Dörfer Lidice und Ležáky, mit denen die deutschen Besatzer das Attentat tschechischer Widerstandskämpfer auf NS-Statthalter Reinhard Heydrich ahndeten. Die Gräueltaten, denen 1500 Menschen zum Opfer fielen, jähren sich im Juni zum 80. Mal. Sie waren maßgeblicher Auslöser dafür, dass es nach Ende des Zweiten Weltkrieges zur Vertreibung von Deutschen aus der Tschechoslowakei kam. Ihnen wurde eine Kollektivschuld für die NS-Verbrechen zugemessen; sie hätten pauschal als »Feinde der Tschechen« gegolten, sagt Okurka.

In Ústí wird die gemeinsame Geschichte indes nicht vom Ende her betrachtet, sondern als Ganzes dargestellt. Sie beginnt im Mittelalter, als deutsche Handwerker und Bauern in Böhmen angesiedelt wurden - Menschen, die durch ihre unverständliche Sprache auffielen: »Němci« heißt wörtlich: »die Stummen«. Die Schau zeigt, wie sie seitdem ihre neue Heimat prägten: in Architektur, Wirtschaft, Kultur. 22 Räume und insgesamt 1500 Exponate bieten eine Tour de Force quer durch die Jahrhunderte: Reformation, Barock, Biedermeier.

Im 19. Jahrhundert wurde das Verhältnis vor dem Hintergrund der europaweiten Herausbildung von Nationalstaaten zunehmend gespannt. Bildhaft illustriert wird das in einem Raum durch eine hohe Barrikade, die auf die Revolution 1848 anspielt, aber aus Wörterbüchern besteht und sinnfällig zeigt, wie sich das Land entlang der sprachlichen Kluft zu spalten begann.

Die Sprache ist für die Ausstellungsmacher das maßgebliche Kriterium: Sie widmen sich, wie im Untertitel betont wird, der Geschichte der »deutschsprachigen Bevölkerung« in Böhmen. Das erlaubt einerseits den Verzicht auf den in Tschechien mit einem negativen Klang versehenen Begriff »Sudetendeutsche«, wie er im Namen eines ebenfalls im vorigen Jahr eröffneten und dem gleichen Thema gewidmeten Museums in München fortlebt. Er ermöglicht es zugleich, auch Protagonisten wie Franz Kafka einzubeziehen, der auf Deutsch schrieb, in Prag lebte und Jude war.

Derlei Uneindeutigkeit war in Böhmen lange der Normalfall. Das zeigt sich in Details, etwa bei einem Prachtstück von einem Motorrad, das einen ganzen Ausstellungsraum dominiert: eine Reisemaschine in Rot und Beige, die in Schönlinde/Krásná Lípa produziert wurde und an deutsche Kunden unter dem Namen »Böhmerland«, an Tschechen aber als »Čechia« verkauft wurde. Als sie 1925 auf den Markt kam, lebten beide Gruppen noch weitgehend einvernehmlich zusammen: Die meisten Deutschen hätten sich damals »abgefunden« mit der Existenz der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik und wählten Parteien, die dieser loyal gegenüberstanden, sagt Kurator Okurka.

Als die Produktion des Motorrades 1939 endete, hatte der sudetendeutsche Nationalismus freilich triumphiert, und der Jahrhunderte währende gemeinsame Weg ging auf sein Ende zu. Die Ausstellung, deren überzeugende Gestaltung vom Prager Architekturbüro Projektil stammt, illustriert das mit einer Installation aus drei konisch zulaufenden Räumen. Einer ist der tschechischen Bevölkerung gewidmet, die unter den Besatzern litt oder, wie in Lidice, ermordet wurde; einer den Juden, die in KZ wie Theresienstadt interniert oder in Auschwitz vernichtet wurden; einer den Deutschen, von denen zwar manche Widerstand leisteten, die meisten sich aber mit dem NS-Regime arrangierten oder es mittrugen.

Als es untergegangen war, trennten sich die Wege; 2,9 Millionen Menschen, immerhin ein Drittel der Bevölkerung, mussten das Land verlassen. Die Ausstellung zeigt ein Faksimile eines der Beneš-Dekrete, mit denen die Enteignung und Vertreibung verfügt wurde, und Fotos der Aussiedlung, die teils mit Misshandlungen und Morden einher ging - etwa am 31. Juli 1946, als es auf einer Elbbrücke in Ústí nad Labem zu einem Gewaltausbruch kam.

Dass unweit der Brücke im Gebäude eines ehemaligen Gymnasiums nun eine Ausstellung an die gemeinsame böhmisch-deutsche Vergangenheit erinnert, ist Ausdruck eines neuen, zugleich selbstbewussten und unbefangenen Blicks auf die eigene Geschichte, der noch vor wenigen Jahren unmöglich gewesen wäre. Das Ausstellungsprojekt galt als sehr wagemutig, als es 2006 in die Wege geleitet wurde. Damals gründete sich eine Institution namens »Collegium Bohemicum«, dem die Stadt Ústí, die Jan-Evangelista-Purkyně-Universität und die Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen angehörten; später beteiligte sich auch das Prager Kulturministerium. 2011 wurden erste Entwürfe für die Ausstellung vorgestellt. Dass noch ein weiteres Jahrzehnt verging, bevor diese eröffnet wurde, habe an finanziellen Schwierigkeiten und nicht an politischen Widerständen gelegen, sagt Okurka.

Dennoch haben sich in dieser Zeit die Rahmenbedingungen weiter verbessert. Erst 2015 verzichtete die Sudetendeutsche Landsmannschaft auf die in ihrer Satzung verankerte Erwartung auf »Wiedergewinnung der Heimat« und Restitutionsansprüche. Diese wiederum waren noch 2013 im tschechischen Präsidentschaftswahlkampf vom heutigen Amtsinhaber Miloš Zeman instrumentalisiert worden. Mittlerweile ist von solchen Forderungen keine Rede mehr. Das wiederum ist eine gute Voraussetzung für eine prächtige Ausstellung wie »Naši Němci - Unsere Deutschen«, deren Titel als Zeichen der Aussöhnung und eine Art verbale Umarmung verstanden werden darf.

»Naši Němci - Unsere Deutschen«, Städtisches Museum Ústí nad Labem, Masarykova 1000/3, Dienstag bis Sonntag 9 bis 18 Uhr, Eintritt 100, erm. 50 Kronen.

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