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Wahn und Wirklichkeit am Jägerzaun

Ein kleines Kunstwerk: Die Webserie »Normaloland« karikiert die deutsche Doppelmoral, ohne ihre Protagonisten lächerlich zu machen

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Banal und präzise zugleich: Hier werden die Tränen zum Beispiel mit einem blutigen Geschirrtuch getrocknet.
Banal und präzise zugleich: Hier werden die Tränen zum Beispiel mit einem blutigen Geschirrtuch getrocknet.

»Gemeinsam alleine sind wir stärker« - kaum etwas könnte Deutschlands unverwüstliche Jägerzaunmentalität besser auf den Punkt bringen als das sturmschiefe Motto der Bürgerinitiative Neustädter Neustadt zur Abspaltung ihrer Teilgemeinde von den »Schmarotzern der Neustädter Altstadt«. So und nie anders nennt Vereinschef Kolbe, den alle nur Uwe nennen, »weil das mein Vorname ist«, alle Bewohner westlich vom Fluss Bolz, der die große Kleinstadt irgendwo zwischen Flensburg und Füssen teilt.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Gemeinsam alleine stärker - so klingt ein Dreisatz engstirniger Selbstüberschätzung, den man sich kaum ausdenken kann, um hiesige Provinzialität im Großen wie Kleinen auszudrücken. Und auch nicht muss. Nicht mehr. Denn das haben schon die drei Autoren Matthias Thönnissen, Michael Halberstadt und Ben Rodrian getan. Ihre Version der bundesweit rund 30 realen Neustadts mit sich selbst als wechselnde Haupt- oder Nebendarsteller haben sie in fünf viertelstündige Detailstudien aufgefächert. Sie heißen »Normaloland«, aber normal ist darin gar nichts. Oder alles. Je nach Perspektive.

In Teil eins dieser pseudodokumentarischen Mockumentary zertrümmert der Tierarzt Dr. Grobel (Rodrian) schließlich Bill Gates’ vermeintliche Steuerungschips im Kopf widerwillig Geimpfter mit einem handelsüblichen Kompressor, knöpft ihnen dafür 1650 Euro ab und verkauft die offensichtliche Täuschung auch noch als Befreiungsaktion. In Teil zwei sucht der deutsche Freizeit-Apache Roland (Halberstadt) nach dem Tod des Häuptlings verzweifelt frische Mitglieder seines Indianervereins und findet ausgerechnet bei den verhassten Fantasy-Fans in Mittelerde-Kostümen vom Nachbargrundstück Anschluss.

In Teil drei kommt Uwe (Anton Fatoni Schneider) beim einsamen Kampf gegen die noch verhassteren Altstädter zum Einsatz, bevor sein Neustädter Neustadt östlich der Bolz plötzlich seinerseits die Spaltung androht. In Teil vier dann erweisen sich die Mitglieder der Jury des örtlichen Kunstpreises als Marionetten des größten Arbeitgebers am Ort (Halberstadt), dem Kuratorin Finja (Massiamy Diaby) vergebens Widerstand leistet. Und im Staffelfinale sucht Therapeutin Wechtelar (Ulrike Arnold) einen Nachfolger für ihre Praxis samt Patienten, die allerdings eher ihre Psychologin therapieren als umgekehrt.

In der Kürze einer Halbzeitpause also bringt Regisseur Thönnissen vieles präzise auf den Punkt, was das menschliche Zusammenleben so banal macht und gleichermaßen bedeutsam: das verbreitete Bedürfnis zum Beispiel, im Strom mitschwimmen und zugleich auffallen zu wollen. Eine Eigenart, die Wissenschaftsfeinde von Pegida bis Trump lautstark zur geistesminimalistischen Massenbewegung hochfantasieren. Zwischen Durchfahrtsstraße und Reihenhaussiedlung reist Thönnissens siebenköpfiges Ensemble also durchs dörflich-urbane Neustadt an der Bolz, das genau genommen zwar nur auf Drehbuchpapier existiert, aber irgendwie in nahezu jeder Siedlung mit mehr als vier Bewohnern zu finden ist.

Erst wenn glaubwürdige Realsatirikerinnen wie Sylke Verheyen mal als Querdenkerin, mal als Antirassistin, hier als Kunstkennerin, dort als Kassenpatientin Wahn und Wirklichkeit der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft vermischen, zeigt sich jedoch das Bemerkenswerte an dieser unscheinbaren Webserie: Sie nimmt ihre Protagonisten ernst genug, um trotz provinziell klingender Dialekte von Kölsch bis Fränkisch niemanden lächerlich zu machen, aber auch leicht genug, um deren Selbstbetrug bei aller Ignoranz nicht abfärben zu lassen.

Als ihr Sohn nach den Klavierstunden auch noch das Aikido-Training abgebrochen und angefangen habe, »ständig diese Computerspiele zu machen«, wusste Verheyens wohlhabende Neustädterin, »dass das damit zu tun hat«. Mit Bill Gates’ teuflischem Chip im Kopf nämlich, mit dem sich die Helikopter-Mum die mangelnde Leistungsbereitschaft ihres überforderten Teenagers im Einfamilienhaus schönredet und Dr. Grobel das Konto füllt. Noch. Denn für 99 Euro pro Einsatz macht ihm chipfrei24.de gerade ernsthaft Konkurrenz in Sachen doppelmoralischer Selbstbereicherung. »Das ist dermaßen unpersönlich und kommerziell«, motzt er in die Kamera des unsichtbaren Dokumentarfilmers. »Reine Abzocke!« Schade nur, dass diese dezent polierte Perle des Low-Budget-Fernsehens ab heute in der Mediathek versteckt wird und drei Tage später im Nachtprogramm des ZDF.

Verfügbar in der ZDF-Mediathek

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