Melatonin ist kein Wundermittel

Das Schlafhormon kann bei Jetlag-Symptomen helfen - aber weniger als Einschlafhilfe

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Sich einfach hinlegen und schlafen wie ein Stein: Das ist der Traum vieler Bundesbürger. Umfragen zufolge leidet etwa jeder Dritte zumindest zeitweise an Ein- oder Durchschlafstörungen. Kein Wunder also, dass Werbung für ein vermeintlich harmloses Schlafmittel auf fruchtbaren Boden fällt: Melatonin, das in Form von Kapseln, Lösung, Spray, Tee oder Kaugummi angeboten wird, hat einen regelrechten Hype ausgelöst. Ist die Begeisterung gerechtfertigt?

Melatonin ist ein Hormon, das der Körper hauptsächlich in der Zirbeldrüse im Gehirn bildet. Es stellt den Organismus auf die Nacht ein und sorgt dafür, dass wir müde werden. Fällt Licht ins Auge, wird die Melatonin-Produktion gestoppt. Insofern ist der Stoff ein wichtiger Taktgeber für den Schlaf-Wach-Rhythmus. Wird zu wenig Melatonin produziert, kann dieser Rhythmus aus dem Takt geraten.

Auf das Verhalten kommt es an
  • Entspannung: Einschlafen kann nur, wer entspannt ist. Daher abends einen Schlussstrich unter die Arbeit ziehen und sich einer angenehmen Beschäftigung zuwenden. Rituale helfen dem Körper, sich auf das Schlafen einzustellen: immer zur selben Zeit einen Tee trinken oder entspannende Musik hören. Für Dauergestresste sind Entspannungsverfahren sinnvoll.
  • Müde werden: Abends erst hinlegen, wenn man richtig müde ist. Es kann hilfreich sein, die Schlafzeit zu verkürzen und dadurch ausreichend »Schlafdruck« aufzubauen.
  • Wenig Alkohol, kein Koffein: Ein Glas Wein am Abend kann zwar helfen, schneller einzuschlafen. Insgesamt verschlechtert Alkohol die Schlafqualität gravierend. Wer sehr empfindlich auf Koffein reagiert, sollte ab etwa 13 Uhr weder Kaffee noch Schwarztee trinken.
  • Nur leichte Mahlzeiten: Nach umfangreichen Mahlzeiten schläft es sich schlecht. Besser ist es, abends in Maßen zu essen und sich auf leicht Verdauliches zu beschränken.
  • Viel Bewegung: Wer regelmäßig Sport treibt, schläft insgesamt besser und ist entspannter. Empfehlenswert ist vor allem Bewegung bei Tageslicht an frischer Luft.
  • Nachts aufstehen: Wer lange nicht schlafen kann, sollte besser aufstehen und einer ruhigen Tätigkeit nachgehen (zum Beispiel lesen, Musik hören). Sich im Bett herumzuwälzen und zu ärgern, ist kontraproduktiv. ast

Als Allround-Einschlafhilfe taugen entsprechende Präparate jedoch nicht. Metaanalysen lieferten kein einheitliches Bild hinsichtlich der Wirksamkeit von Melatonin zur Behandlung von Insomnie (Schlaflosigkeit), heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Daher werde es zu diesem Zweck auch nicht generell empfohlen. »Die Wirksamkeit von Melatonin ist sehr überschaubar«, sagt auch Peter Geisler, Leiter des Schlaflabors am Bezirksklinikum Regensburg. »Bei den allermeisten Menschen hat es keine direkte schlafanstoßende Wirkung. Es gibt nur ganz wenige, bei denen der Stoff eine starke Schläfrigkeit auslöst.«

Sinnvoll könnten die Mittel nur in bestimmten Fällen sein, erklärt Geisler. Dazu zählt ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus: Der kann vorliegen, wenn jemand ständig sehr lange zum Einschlafen braucht und dafür beim Aufstehen noch müde ist. Auch blinde Menschen, die Licht nicht wahrnehmen und folglich an Schlafstörungen leiden, profitieren mitunter von Melatonin-Gaben. Bei Parasomnien wie dem Schlafwandeln kann sich das Mittel Geisler zufolge ebenfalls positiv auswirken.

Dennoch berichten immer wieder Menschen, dass ihnen Melatonin gerade beim Einschlafen gut geholfen habe. Wahrscheinlich profitieren sie vom Placebo-Effekt, meint der Schlafmediziner: »Man glaubt, etwas Wirkungsvolles genommen zu haben, und entspannt sich deshalb«, sagt er. »Bei Schlafmitteln spielt der Placebo-Effekt grundsätzlich eine ganz große Rolle. Sogar bei Studien mit klassischen Medikamenten ist es schwierig, den Placebo- von einem ›echten‹ Effekt sauber zu unterscheiden.«

Er selbst verschreibt Melatonin-Präparate nur selten. »Die Menschen, die zu uns kommen, haben so ausgeprägte Schlafstörungen, dass Melatonin nicht ausreicht«, erklärt Geisler. »Bei einer länger anhaltenden Insomnie ist ohnehin eine kognitive Verhaltenstherapie das Mittel der Wahl.« Auch Hans-Günter Weeß, Vorstandsmitglied der DGSM, hält wenig von Melatonin: »Jedes Jahr sehe ich 500 bis 1000 Patienten mit Schlafstörungen, die schon alles Mögliche ausprobiert haben. Häufig war auch Melatonin dabei. Geholfen hat es keinem.«

Belegt ist die Wirkung des Stoffes allerdings bei Jetlag. Einer Analyse wissenschaftlicher Studien zufolge kann Melatonin sowohl Problemen vorbeugen, die durch Zeitverschiebung entstehen, als sie auch reduzieren. Daher hält auch die DGSM das Mittel für Erwachsene für empfehlenswert, die über fünf oder mehr Zeitzonen fliegen - insbesondere in östlicher Richtung. Vor allem Menschen, die früher schon Jetlag-Probleme hatten, könnten profitieren. Allerdings scheinen hier weitere Studien erforderlich zu sein, um das Nebenwirkungsprofil präziser einschätzen zu können.

Ist Melatonin doch nicht völlig harmlos? Eindeutig ist das nicht. Immerhin ist klar, dass die Mittel nicht abhängig machen. Neben- und Wechselwirkungen sind aber möglich. »Viele Menschen berichten über Kopfschmerzen, Schwindel und auch Albträume«, sagt der Schlafmediziner Weeß. Damit bezieht er sich allerdings auf verschreibungspflichtige Melatonin-Medikamente, die mindestens 2 Milligramm des Stoffes pro Tablette enthalten. Bei frei verkäuflichen Produkten mit Melatonin handelt es sich um Nahrungsergänzungsmittel, in denen das Hormon in ganz unterschiedlichen Mengen enthalten ist - zum Teil in niedriger (0,5 mg und weniger), zum Teil in erheblicher Dosierung (5 mg). Solche Mittel brauchen keine Zulassung - das heißt, deren Wirksamkeit und Sicherheit wurden vorab nicht von Behörden geprüft. Für den Verbraucher wirft dies viele Fragen auf.

Immerhin kann man davon ausgehen, dass Melatonin gut verträglich ist. »Sonst hätten die Hersteller in den USA, wo solche Mittel frei verkäuflich sind und bereits zentnerweise verkauft wurden, längst Klagen am Hals«, sagt Geisler. Dennoch sind auch Kapseln mit geringer Dosierung keine Lutschbonbons, die man bedenkenlos verzehren sollte. Insofern ärgert sich Angela Clausen von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen besonders über Melatonin-Kaugummis, die leicht Kindern in die Hände fallen könnten. »Wie Melatonin dargeboten und beworben wird, ist verharmlosend«, kritisiert sie. Überhaupt hätten die Mittel mit »Nahrungsergänzung« nichts zu tun. Zwar ist Melatonin in einigen Lebensmitteln, etwa Bananen, Tomaten, Cashewkernen, Gurken und manchen Pilzarten, enthalten. Doch müsste man nach Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung zum Beispiel 200 Kilo Bananen oder eine Tonne Gurken vertilgen, um dem Körper 0,1 Milligramm des Hormons zuzuführen.

Auch die Pharmazeutin Mona Tawab vom Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker hält den Stoff nicht für völlig unproblematisch. »Man greift dadurch extern in den Hormonhaushalt des Körpers ein«, sagt sie. Das könnte auf Dauer sogar kontraproduktiv sein: »Dadurch sendet man dem Körper falsche Signale. Theoretisch könnte es also sein, dass langfristig die körpereigene Hormonproduktion heruntergefahren wird.« So ein Effekt sei zwar in Kurzzeitstudien nicht nachgewiesen worden, allerdings sei bis jetzt unklar, was ein Dauergebrauch bewirken könnte. Hans-Günter Weeß betont: »Langzeitstudien gibt es nicht.«

Der Traum von einem sanften, zuverlässigen Einschlafmittel bleibt also unerfüllt. Immerhin haben Schlafmediziner eine Alternative parat: Wer an seinem Verhalten arbeitet, kann in vielen Fällen bald wieder besser schlummern - und das ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen.

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