Der Fehler als System

Lockdowns waren nie alternativlos: Karl Heinz Roth legt mit »Blinde Passagiere« ein Standardwerk zur Coronakrise vor, das die herrschende Politik kritisiert

  • Thomas Sablowski
  • Lesedauer: 5 Min.
Neue Normalität: Wo der Staat beim Infektionsschutz versagte, griff er zu rigiden Mitteln wie Lockdowns
Neue Normalität: Wo der Staat beim Infektionsschutz versagte, griff er zu rigiden Mitteln wie Lockdowns

Die Meinungen zur Covid-19-Pandemie und zum staatlichen Infektionsschutz waren von Anfang an gespalten: War die Einschränkung von Grundrechten, die Schließung von Schulen, Kitas, Restaurants, Theatern überflüssig? Oder mangelte es den Regierungen am Willen, tiefer in die Kapitalverwertung einzugreifen, um einen besseren Gesundheitsschutz zu gewährleisten? Gingen die staatlichen Maßnahmen zu weit oder nicht weit genug?

Der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth hat nun eine der ersten umfassenden zeitgeschichtlichen Studien über die Pandemie vorgelegt. Sie zeigt, dass in gewisser Weise beides zutrifft: Die Regierungen versagten vielfach dabei, selbst einfachste hygienische Maßnahmen wie zum Beispiel die Versorgung mit medizinischen Masken und Desinfektionsmitteln oder Testkapazitäten zu gewährleisten. Sie konnten besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen wie alte und kranke Menschen nicht ausreichend schützen. Gleichzeitig erzwangen sie lang andauernde Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens, die enorme wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Schäden produzierten. Roth ist weder ein Corona-Leugner oder Impfgegner noch ein Anhänger der »Zero Covid«-Strategie, die er für illusionär hält. Gleichwohl kritisiert er die herrschende Politik.

Globale Auswirkungen

Roth hat für »Blinde Passagiere« den Wissensstand über Covid-19 in den führenden medizinischen Fachzeitschriften, Wissenschaftsgesellschaften, Forschungsinstituten und nationalen Zentren zur Krankheitsprävention und -kontrolle bis zum Mai 2021 aufgearbeitet. Zudem hat er den Verlauf der Pandemie und die staatlichen Maßnahmen in einer Vielzahl von Ländern anhand internationaler Tageszeitungen und Wochenmagazine sowie der Berichte nationaler und internationaler Organisationen verfolgt. Sein 500 Seiten starkes Buch setzt neue Maßstäbe in der gesellschaftlichen Diskussion über die Pandemie. Eine zentrale Stärke des Buches besteht in der integrierten Darstellung medizinischer, ökonomischer, sozialer und politischer Aspekte der Pandemie. Ein weiterer Vorzug liegt darin, dass Roth eine globale Perspektive einnimmt, sowohl die kapitalistischen Zentren als auch Schwellen- und Entwicklungsländer berücksichtigt. Es gibt bisher zu diesem Thema keine vergleichbare Arbeit.

Der Titel »Blinde Passagiere« verweist auf ein zentrales Merkmal des Coronavirus Sars-CoV-2: Die Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgt vielfach unbemerkt. Dies erschwert die Eindämmung der Infektionen. Roth vergleicht die Covid-19-Pandemie mit der Pest und der Influenzapandemie der Jahre 1918 bis 1920 und betont vor allem die höhere Ausbreitungsgeschwindigkeit von Covid-19, die durch die heutige hohe gesellschaftliche Mobilität und die modernen Transportmittel bedingt ist. Die Pandemie war dabei durchaus kein unerwartetes Ereignis. Roth verweist auf die vorangegangenen Sars- und Mers-Pandemien, den Aufbau von Frühwarnsystemen in einer Reihe von Ländern, die medizinische Forschung über Coronaviren und die Versuche der Impfstoffentwicklung, die Aktivitäten der WHO und privater Stiftungen sowie die nationalen Pandemiepläne. Gleichwohl unterblieben notwendige staatliche Vorsorgemaßnahmen.

Roth stellt die weltweite Ausbreitung des Virus und den Verlauf der Pandemie bis Mai 2021 dar. Er resümiert den Wissensstand in Bezug auf die Merkmale und Übertragung des Virus, die Krankheitsverläufe und medizinische Behandlung, die Todesursachen sowie den Stellenwert der Impfkampagne. Dabei setzt er sich auch kritisch mit den Infektions- und Mortalitätsstatistiken auseinander. Er betont die hohen Dunkelziffern und kommt anhand eigener Schätzungen zu dem Ergebnis, dass die Sterblichkeit bei der Covid-19-Pandemie zwar niedriger ist als bei der Spanischen Grippe, aber erheblich höher als bei den jüngeren Grippepandemien. Er zeigt damit, dass Covid-19 weder harmlos noch völlig einzigartig ist.

Infektionshygiene oder Lockdown?

Weiterhin zeichnet Roth die wechselhafte Politik der Regierungen in verschiedenen Ländern nach, den Übergang von der anfänglichen Vertuschung zum autokratischen Durchgreifen in China, die raschen Gegenmaßnahmen in Ost- und Südostasien, den Wechsel von Untätigkeit, Panikreaktionen und »Lockerungen« in Westeuropa, die katastrophale Politik in den USA und Brasilien, den sich ausbreitenden Impfnationalismus und -protektionismus. Während Roth die Händedesinfektion und den Verzicht auf das Händeschütteln sowie das Tragen von Masken und die Reduzierung von sozialen Kontakten im Sinne des Infektionsschutzes für notwendig und effektiv hält, sieht er den staatlich verordneten »Großen Lockdown«, also die Schließung von Schulen, Kindertagesstätten und kulturellen Einrichtungen, die Stilllegung von ganzen Wirtschaftsbereichen und die Außerkraftsetzung von Grundrechten sehr kritisch. Er verweist darauf, dass die Infektionszahlen schon einige Tage vor dem Inkrafttreten der staatlichen Maßnahmen zurückgingen, als Resultat der spontanen Vorkehrungen der Bevölkerung.

Der Staat hätte sich laut Roth lieber auf die Bereitstellung der Hygieneartikel, die Ermöglichung flächendeckender Tests und den Schutz der besonders gefährdeten Risikogruppen konzentrieren sollen, um das Massensterben in den Alten- und Pflegeheimen zu verhindern. Er verweist auf verschiedene Studien, die nur geringe oder gar keine Auswirkungen von Ausgangsbeschränkungen und anderen restriktiven Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen feststellten. Dagegen sieht Roth im Wiederanstieg tödlicher Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria und Aids in den Entwicklungs- und Schwellenländern, im Rückgang der Notfalleinweisungen von Patienten mit Schlaganfällen und Herzinfarkten, der Zunahme von Depressionen und Angststörungen sowie im Wachsen der Sterblichkeit unter Demenzkranken und einer zunehmenden Zahl von Drogen- und Alkoholtoten in den kapitalistischen Zentren schädliche Nebeneffekte des Lockdowns. Dass ein effektiverer Infektionsschutz auch weitgehend ohne staatliche Zwangsmaßnahmen möglich gewesen wäre, zeigt aus Roths Sicht der Fall Japan.

Die tieferen Ursachen der Coronakrise sieht er vor allem in der rudimentären Entwicklung des Gesundheitswesens in den Entwicklungsländern und in dessen Kommerzialisierung in den kapitalistischen Zentren, in der Privatisierung und Ökonomisierung der Krankenhäuser, die Alten- und Pflegeheime in Anlageobjekte von Private-Equity-Fonds verwandelt. Auch wenn man Karl Heinz Roth nicht bei jeder Bewertung folgen mag, muss man anerkennen, dass er ein Standardwerk über die Corona-Pandemie geschaffen hat, das enorm zur Versachlichung der gesellschaftlichen Diskussion beitragen kann.

Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen. Verlag Antje Kunstmann, 504 S., geb., 30 €.

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