Lasst uns in Frieden (35): Ohmmmmmm

Warum Herman Melvilles Geschichte über einen unwilligen Schreiber zur einer Parabel für den Ausstieg aus dem System wurde

  • Lena Fiedler
  • Lesedauer: 2 Min.

Nach jahrzehntelanger stupider Arbeit in einem seelenlosen Büro auf der Wall Street stand der Schreiber Bartleby eines Tages auf und sagte: »I would prefer not to.« Dieses Nein, diese Verweigerung zog er durch - zur Überraschung seines Arbeitgebers, der es bald darauf aufgeben musste, ihn zur Arbeit bewegen zu wollen.

Herman Melvilles Geschichte über den unwilligen Schreiber ist berühmt, Bartlebys Nein zu einer Parabel für den Ausstieg aus dem System geworden. Oft sind es eben die Störungen im Betriebsablauf, die eine Änderung zum Besseren bewirken. Das Nein des Einen mag für die Anderen falsch erscheinen, irrational, ja vielleicht sogar bedrohlich. Denn es wendet sich gegen den common ground (Konsens) der größeren Gruppe und weckt Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Handelns.

So eine Unterbrechung des Alltags fand auch 2007 auf einer Kunstmesse in London statt. Zwischen den ausgestellten Bildern sitzt ein Londoner Polizist im Schneidersitz auf dem Boden und meditiert. Der Ordnungshüter, dessen Aufgabe es eigentlich wäre, die Individuen um sich herum zu disziplinieren, fokussiert sich hier auf seine eigene individuelle Ausgeglichenheit. Gehört die Polizei vielleicht doch nicht auf den Müll, wie vor einigen Monaten noch von »taz«-Person Hengameh Yaghoobifarah gefordert, sondern in den Yoga-Kurs?

Die als »Pre-emptive Act« (Präventivtat) betitelte Fotografie zeigt keinen echten Polizisten, sondern den Künstler Gianni Matti. Im Kontext der terroristischen Bedrohung, die zu dieser Zeit in Europa akut war, scheint Motti hier - nicht ohne Ironie - dazu aufzurufen, in Zeiten großer nationaler und persönlicher Unsicherheit den inneren Frieden zu bewahren. Der performativ arbeitende Künstler agiert immer wieder als Aktivist, der mit seinen Aktionen den Ablauf und deren Ordnung stört. Dabei zeigt er auf, wie Systeme funktionieren und unterwandert sie im selben Moment. 1997 etwa gelang es Motti, sich zur Versammlung der UN-Menschenrechtskommission in Genf Zutritt zu verschaffen, den Platz des an diesem Tag abwesenden indonesischen Botschafters einzunehmen und bei einer Abstimmung das Wort zugunsten der Rechte ethnischer Minderheiten zu ergreifen. Mehrere Vertreter der indigenen Bevölkerungen Nordamerikas schlossen sich den Worten des vermeintlichen indonesischen Delegierten an und verließen die Versammlung als Zeichen des Protests. Es muss nur einer den Wahnsinn erkennen, in dem wir stecken, um einen Stein ins Rollen zu bringen. Lena Fiedler

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