Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus

Fast ein Drittel erklärt in einer Allensbach-Befragung, Deutschland sei nur eine »Scheindemokratie«

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Es waren Momente mit Symbolkraft: 300 bis 400 Menschen überrannten am 29. August 2020 die Absperrgitter vor dem Reichstag und stürmten anschließend die Treppe zum Eingang des Parlamentsgebäudes hoch. Etliche Beteiligte ließen schwarz-weiß-rote Reichsfahnen wehen, später wurde der »Sturm« in einschlägigen Internetforen und Telegramgruppen von Rechtsradikalen und Reichsbürgern gefeiert. Eine Brücke bis weit hinein ins bürgerliche Lager schlug die »Querdenken«-Bewegung. Ihr Mitbegründer Michael Ballweg rief zur gleichen Zeit eine »verfassungsgebende Versammlung« aus, die sich in einem Camp vor dem Reichstag treffen sollte.

Zwar verloren die »Querdenken«-Proteste zeitgleich mit Auslaufen der meisten staatlichen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie erheblich an Zuspruch. Doch die mehr als zwei Jahre andauernde Coronakrise legte gesellschaftliche Probleme offen, die nun nach und nach wissenschaftlich untersucht werden. Ein Befund: Die parlamentarische Demokratie in Deutschland steht unter nicht zu unterschätzenden Druck. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Südwestrundfunks. Anlass für die Erhebung ist eine am Montagabend in der ARD ausgestrahlte Dokumentation über den Tankstellenmord von Idar-Oberstein.

Wahrscheinlich aus Streit über die damals geltende Maskenpflicht erschoss ein 50-Jähriger im September 2021 den Mitarbeiter einer Tankstelle, weil dieser ihn aufgefordert hatte, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Der mutmaßliche Täter Mario N. muss sich seit Kurzem vor dem Landgericht Bad Kreuznach verantworten. In einer Vernehmung kurz nach den tödlichen Schüssen hatte N. erklärt, er habe mit der Tat ein Zeichen gegen die Coronapolitik setzen wollen.

Auch die kürzlich veröffentlichte Jahresstatistik des Bundeskriminalamtes liefert einen Hinweis auf das Aggressionspotenzial in der Gesellschaft: Demnach gab es im vergangenen Jahr rund 8500 politisch motivierte Straftaten mit Corona-Bezug, bei den meisten handelte es sich glücklicherweise nur Beleidigungen und Sachbeschädigungen.

Wie stark die Zusammenhänge zwischen einer fundamentalen Ablehnung der Corona-Maßnahmen, dem Verhältnis zur Demokratie und die Sehnsucht nach autoritärer Führung sind, darauf liefert die Allensbach-Erhebung Hinweise. In der repräsentativen Studie erklärten 31 Prozent der Teilnehmer*innen, sie seien der Überzeugung in einer »Scheindemokratie« zu leben, »in der die Bürger nichts zu sagen haben«. In den ostdeutschen Bundesländern stimmen dieser These 45 Prozent der Befragten zu, in Westdeutschland sind es 28 Prozent.

Die gleiche Anzahl der Befragten schlussfolgert daraus, dass das demokratische System in Deutschland »grundlegend geändert« gehöre. Interessanterweise erreicht die Zustimmung zu dieser Position in der Pandemie keinen Spitzenwert. Allensbach stellt die identische Frage nach einem Systemwechsel im Rahmen einer anderen Befragung bereits seit 1986, die höchste Zustimmung wurde 2003 mit 48 Prozent gemessen.

Allerdings - und an dieser Stelle wird es kritisch - geht es den Befragten dabei wohl weniger um einen Ausbau demokratischer Teilhabe. So erklären 46 Prozent der Befragten in der aktuellen Erhebung, es brauche »einen starken Politiker an der Spitze, keine endlosen Debatten und Kompromisse«. Besonders groß ist die Demokratieskepsis unter AfD-Anhänger*innen. 74 Prozent schließen sich der Forderung nach einem grundlegend anderen Politiksystem an, ähnlich hoch ist die Zustimmung zur Existenz einer angeblichen Scheindemokratie. Zum Vergleich: Bei den Grünen stimmt dem nur jede sechste Person zu.

Ähnlich verhält es sich mit der Haltung zur Corona-Pandemie. Gefragt nach acht gängigen Verschwörungserzählungen, etwa zu der Behauptung, die Corona-Impfung sei gefährlicher als die Krankheit selbst, stimmten AfD-Unterstützer*innen diesen im Durchschnitt deutlich häufiger zu (45,8 Prozent) als Sympathisant*innen aller anderen Parteien. »Wir sehen ziemlich deutlich, dass Rechtsradikale weitaus häufiger Corona-Verschwörungstheorien anhängen als Nicht-Rechtsradikale - und AfD-Anhänger weitaus häufiger als Anhänger aller anderen Parteien«, sagt Thomas Petersen, Projektleiter der Allensbach-Studie. Interessant ist, dass 41 Prozent der Unterstützer*innen der Linkspartei zwar ebenfalls ein anderes politisches System fordern, für Verschwörungserzählungen allerdings kaum (13,2 Prozent) empfänglich sind.

Die Allensbach-Studie bestätigt, was auch andere Untersuchungen zeigen. So fand im Februar eine Erhebung des Center für Monitoring, Analyse und Strategie heraus, dass AfD-Anhänger*innen mit Abstand am häufigsten an Protesten gegen die Corona-Maßnahmen teilnehmen und der Überzeugung sind, »die Zeit des friedlichen Widerstandes gegen die Maßnahmen« sei vorbei.

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