• Berlin
  • 77. Jahrestag Befreiung Ravensbrück

Die Zehdenicker Ziegelei als Gefängnis

Im Rahmen der Gedenkfeiern in Ravensbrück erinnern KZ-Überlebende an ihre Qualen in der NS-Zeit

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 5 Min.

Barbara Pietrowska sagt, sie erinnere sich noch gut: »Dass wir damals in Kellern lebten, es mangelte an Lebensmitteln, Wasser zapften wir aus Brunnen, die sich in einigen Gärten in unserer Straße befanden.« Geboren wurde Barbara Pietrowska in Lwiw in der heutigen Ukraine. Ihr Geburtsort, derzeit einer der Schauplätze des seit über zwei Monaten andauernden russischen Angriffskrieges, lag im Jahr 1935 allerdings noch in Polen, wo die damals fast Vierjährige im Jahr 1939 den Angriff der deutschen Wehrmacht erleben musste.

70 Menschen hören Barbara Pietrowska an diesem Samstag zu, während die 87-Jährige ihre Erinnerungen schildert – per Videonachricht, die anlässlich einer besonderen Gedenkfeier in das Kino des Veranstaltungsorts »Alte Reederei« im brandenburgischen Fürstenberg (Havel) übertragen wird.

Der Verein Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis hat am vergangenen Wochenende im Rahmen der Feierlichkeiten zum 77. Jahrestag der Befreiung des nationalsozialistischen Frauenkonzentrationslagers zu einem expliziten Gedenken an die Haftgruppe der polnischen Frauen eingeladen und hätte die alte Dame gern als Rednerin begrüßt oder auch live dazugeschaltet. Aber sie habe sowohl aus gesundheitlichen als auch aus psychischen Gründen angesichts des Ukraine-Krieges nicht vermocht zu kommen, habe Barbara Pietrowska schließlich mitgeteilt.

Ihre Schilderungen, die sie auf polnisch vorträgt und die in einer mehrseitigen deutschen Übersetzung von den Besucher*innen der Gedenkfeier mitgelesen werden können, sind so berührend wie erschreckend. Als sie den deutschen Nazi-Täter*innen, denen Pietrowska schließlich bei ihrer Ankunft im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück im Herbst 1944 zusammen mit ihrer Mutter Maria Stachowicz ausgeliefert wird, hat sie bereits die Zerstörung der polnischen Hauptstadt Warschaus erlebt, in dass sie mit ihren Eltern gezogen war. Dort hatten sich im April 1943 nicht nur die im Warschauer Ghetto eingeschlossenen Jüd*innen, sondern einige Monate später im Januar 1944 auch die restlichen Stadtbewohner*innen gegen die deutschen Besatzer erhoben. »Ich weiß noch, dass wir Kinder unseren Müttern halfen, Verbandsmaterial für die Krankenschwestern und Essensrationen für die Aufständischen vorzubereiten«, erinnert sich Barbara Pietrowska. Und sie habe bei »allem die Angst eines Kindes« verspürt: »Wie geht es weiter? Werden wir überleben? Werde ich mit der Mutter und dem Vater immer zusammen bleiben können?«

Den Vater Anton verliert sie, kurz nachdem sie zusammen mit ihren Eltern nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands am 29. September 1944 aus ihrem Haus getrieben und »auf Transport« geschickt wird. Während Barbara und ihre Mutter in das berüchtigte Zelt des improvisierten Teils des Frauenkonzentrationslagers in unmittelbarer Nähe des Fürstenberger Schwedtsees gelangen, wird der Ingenieur Anton Stachowicz in das KZ Neuengamme bei Hamburg deportiert und dort am 8. Dezember 1944 ermordet.

Im Winter 1944/1945 wird die 9-jährige Barbara zusammen mit ihrer Mutter verschiedenen Arbeitskommandos zugeteilt, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten, oft in nahe gelegenen Industrie- und Landwirtschaftsbetrieben. Sie sei zusammen mit anderen Kindern auf einem Bauernhof in Kleptow eingesperrt gewesen, während ihre Mutter zusammen mit anderen Häftlingen Zuckerrüben ernten musste. »Der Hofbesitzer misshandelte die Warschauerinnen, die an die Feldarbeit nicht gewöhnt waren, brutal. Er schlug die Frauen, wenn sie im Knien oder Hocken versuchten zu arbeiten.« Ihre Mutter habe er eines Tages bewusstlos geschlagen, erinnert sich die Überlebende, gemeinsam mit anderen Kindern habe sie versucht, sie zu retten – mit Erfolg.

Nach der Feldarbeit erlebt das Mädchen auch die Ziegelei in Zehdenick als Gefängnis – während die Frauen arbeiten mussten, sperrte man die Kinder dort ebenfalls ein.
Das Martyrium vieler Ravensbrücker*innen dauert bis Ende April 1945 an. Maria und Barbara Pietrowska werden in der Nähe von Weimar, wohin sie mit einem der Todesmärsche gelangten, auf die die Nazitäter*innen Zehntausende KZ-Häftlinge schickten, von alliierten Soldaten der US-Army befreit.

Sie waren zwei von über 36 000 Polinnen, die in dem Frauenkonzentrationslager, in dem neben über 130 000 Frauen und Mädchen auch über 20 000 Männer und Jungen inhaftiert waren. In der damit größten Gruppe der Inhaftierten waren damals auch mindestens 160 als Widerstandskämpferinnen in Ravensbrück erschossene polnische Frauen. An sie erinnert die Lagergemeinschaft im Anschluss an die Schilderungen Pietrowskas mit der Vorstellung einer neuen, vom Verein herausgegebenen Broschüre und gemeinsam mit 100 Menschen einer Gedenkfeier auf dem Fürstenberger Friedhof mit Akkordeonmusik der Berliner Künstlerin Tanja Buttenborg. Teil nehmen daran auch der Bürgermeister der Stadt, Robert Philipp (parteilos) und Angehörige der polnischen Überlebenden Łucja Barwikowska des Jugend-Konzentrationslagers Uckermark, dass sich in unmittelbarer Nähe des KZ Ravensbrück befand. Dort findet am Samstagnachmittag eine Veranstaltung der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark statt.

Nach den vergangenen zwei Jahren, in denen angesichts der Auflagen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie viele Gedenkveranstaltungen nur digital oder ohne Besucher*innen stattfinden konnten, sind am Wochenende zahlreiche Besucher*innen sowohl in Ravensbrück als auch in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen zugegen. Zur zentralen Gedenkveranstaltung am Sonntag in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück erscheinen neben Angehörigen ehemaliger Häftlinge auch die jüdische Überlebende Lili Leignel und die 97-jährige Überlebende Ilse Heinrich. Ulrike Liedtke (SPD), Präsidentin des Brandenburgischen Landtags, legt am Mahnmal »Die Tragende« am Ufer des Schwedtsees einen Gedenkkranz nieder.

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