Der Mord, der Bezirk und die Erinnerung

Die Ermordung eines jungen Mannes weckt die Angst vor einer Eskalation der Gewalt in Neukölln

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 4 Min.
Besser als sein Ruf: Nach dem jüngsten Mord stellt sich die Frage, wie es in Neukölln weitergehen wird.
Besser als sein Ruf: Nach dem jüngsten Mord stellt sich die Frage, wie es in Neukölln weitergehen wird.

Über 300 Trauergäste haben am Donnerstag auf dem Zwölf-Apostel-Friedhof in Schöneberg – begleitet von 170 Polizisten – von Mohamed R. (25) Abschied genommen. Er wurde am vergangenen Sonnabend auf den »Maientagen« in Neukölln erstochen. Mohamed R. habe ich nie kennengelernt, aber im September 2018 wurde ich zufällig Zeuge der Ermordung seines Bruders Nidal.

Es war der 9. September 2018, ein ungewöhnlich warmer Spätsommertag. Ich blinzelte direkt ins Sonnenlicht. Ein Mann mit Dreadlocks und auffälligen Kopfhörern kam mir entgegen, während ich mich auf das Tempelhofer Feld zubewegte. Der Mann rauchte einen Joint. Viele Menschen waren unterwegs: Junge Familien mit ihren Kindern, Studenten, Touristen. Der Geruch von gegrilltem Fleisch lag in der Luft, ebenso ein babylonisches Sprachengewirr, Schwedisch, Hebräisch, Arabisch, Spanisch und jenes Englisch mit diesen lang gezogenen Vokalen, wie ich es vor einigen Monaten in Neuseeland kennengelernt hatte.

Ich blickte mich noch einmal um, dann knallte es – Schüsse!? Wieso Schüsse? An einem Sonntag, an dem die Sonne scheint. Gerade eben noch Lachen, Leben, aufsteigende Drachen und Kindergeschrei, jetzt: »Wumm, wumm«. Und alles verlangsamte sich, stand geradezu still.
Mein Eindruck war brüchig, hatte keinen Bestand, eine Blondine rannte auf mich zu – barfuß. »Pass auf die Splitter am Boden auf«, dachte ich noch, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres. Die Blondine kreischte, lief an mir vorbei. Eine Männerstimme brüllte »Platzpatronen!« Ja: Platzpatronen. Dankbar nahm ich das Wort auf. »Was auch sonst«, dachte ich noch – doch dann, nur einen Wimpernschlag später, sah ich zwei junge Männer, mit Pistolen in der Hand. Die Männer rannten wie auf einer Hetzjagd von links kommend an mir vorbei. Es war immer noch still, doch plötzlich ein Schrei. Der Schrei kam von links, aus der Richtung dieses Wagens, eines Eiswagens wie aus meiner Kindheit in den späten 70er Jahren, der durch die Straßen unseres Wohngebiets fuhr.

Vor dem Eiswagen lag ein Mann auf dem Boden, unter ihm eine sich ausbreitende Lache Blut. Ich trat auf den Mann zu, von dem ich erst viel später erfuhr, wer er war. »Können Sie mich verstehen?« Der Mann blickte mich an, es war ein Blick, den ich nicht vergessen werde: der Blick eines Menschen, der durch Gewaltanwendung stirbt. Sein Gesicht war grau wegen des Blutverlusts, die Augen flackerten. Ich drehte mich blitzartig um, schaute plötzlich in die Gesichter von vielen Menschen, frage nach einem Arzt – nein, ich brüllte. Ein junger Mann, schwarzes T‑Shirt, sehr schmal, sehr jung, trat schüchtern hervor: »Ja, ich bin Arzt.« Der Mediziner blickte auf das Opfer und sagte: »Oh Gott!«, dann beugte er sich herunter zu Nidal R.

Ich wohne schon seit zwölf Jahren in Neukölln. Lange Zeit galten die Bewohner dieses Stadtteils als Aussätzige, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Ihr Auftreten, Aussehen, Verhalten und ihre Herkunft waren gleichbedeutend mit all den Phänomenen, vor denen sich Deutschland fürchtet: soziale Verwahrlosung, Überfremdung, gescheiterte Integration, der Islam, prekäre Lebensverhältnisse, Hartz IV, Kriminalität und Gewalt.

Heute aber ist Neukölln der aufregendste Ort der Republik, ja das Laboratorium Deutschlands. Ein explosiver und stimulierender demografischer Mix aus Schwaben und Syrern, Hipstern und Hartz-IV-Empfängern, Philosophiestudentinnen, Malochern und Modedesignern, kleinbürgerlich bis bettelarm, neureich und neurotisch, von hektischen unternehmerischen Aktivitäten erfasst, wo Lebenslust, Vitalität und Frust ein einzigartiges Gefühl ergeben, das mit dem Begriff »urban« nur sehr unzureichend erklärt wird.

Daran kann auch die sogenannte Clan-Kriminalität nichts ändern, ein Überbleibsel und Phänomen, welches sich aus globalkapitalistischen Rahmenbedingungen speist, flankiert von einer nicht vorhandenen Einwanderungspolitik über Jahrzehnte hinweg.

An dem Tag, an dem Nidal starb, wählten die Menschen sich die Finger wund. »Wir können weder Polizei noch den Notruf erreichen!«, hieß es. Plötzlich rannten vom Feld her zahlreiche Menschen in Richtung Tatort. Eine Frau blieb stehen, erkannte den Sterbenden am Boden, ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann brach sie zusammen. Später erfuhr ich, dass es sich um die Mutter des Opfers handelte. An diese Frau musste ich denken, die an diesem Sonnabend ihr zweites Kind durch Gewalt verlor, innerhalb weniger Jahre.

Experten rechnen mit einem Gegenschlag, ja mit einer weiteren Eskalation des Bandenkrieges in Neukölln. Was wird das aus meinem Wohngebiet machen? Wird es die Nachbarschaft verändern, oder bleibt alles beim Alten? Werden sich die Menschen daran gewöhnen, an diese Gefahr, wie an ihre eigene Vergänglichkeit? Und bleibt Neukölln das, was es jetzt ist, was eine Stadt sein sollte? Nämlich, wie es der Autor Gerald Clarke einst formulierte: »stets frech und lebendig«. Ein Ort, an dem man zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Buch kaufen oder einen Freund treffen kann. Wo unbeschreiblich viele Sprache gesprochen werden und Fremdenhass fast unbekannt ist. Wo für jeden Geldbeutel und Appetit gesorgt ist. Und wo jede Straße in jedem Viertel samt Bewohnern ihre Funktion erfüllen und nicht in Apathie, Gleichgültigkeit und Verwesung versinken.

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