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Eine neue Heimstatt

In dem thüringischen Dorf Berkach kümmern sich Anwohner um die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten

  • Sebastian Haak, Berkach
  • Lesedauer: 7 Min.
Anja Köhler sitzt an einem Tisch in der ehemaligen jüdischen Schule, die gerade zu einem Zufluchtsort für ukrainische Kriegsflüchtlinge umgebaut wird.
Anja Köhler sitzt an einem Tisch in der ehemaligen jüdischen Schule, die gerade zu einem Zufluchtsort für ukrainische Kriegsflüchtlinge umgebaut wird.

Obwohl Ramona Pirnak an dem Heftpflaster an ihrem Finger herumnestelt und sich über den Riss in der Haut ärgert, erzählt sie. Fast unentwegt. Davon, was sich hinter dem Putz verbirgt, der erst vor ein paar Tagen in einem der kleinen Zimmer im ersten Stock an die Wand angebracht wurde. »Fliesen«, sagt die 46-Jährige und deutet auf die kleine Kante des nun nicht mehr sichtbaren Fliesenspiegels. Wenn man das Zimmer zum ersten Mal betritt, nimmt man diesen handwerklichen Makel kaum wahr. Der Riss an ihrem Finger tut ihr weh. Pirnak hat ihn sich zugezogen, als sie einen Schrank aufgebaut hat, der bald in einem der Zimmer des Hauses stehen soll. Das Pflaster darüber lindert weder den Schmerz, noch sitzt es fest. Also reißt Pirnak es herunter.

Die jüdische Schule von Berkach

Im Zuge der bürgerlichen Freiheitsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielten die Jüdinnen und Juden mehr Rechte. Sie durften Häuser in Dörfern kaufen, neue Berufe erlernen und Universitäten besuchen. Auch im südthüringischen Berkach erblühte fortan jüdisches Leben. Höhepunkte waren die Anlage des eigenen Friedhofs außerhalb des Dorfes um 1825, der Bau eines rituellen Tauchbades, der Mikwe, 1838 und die feierliche Einweihung der neu errichteten Synagoge und des jüdischen Schulhauses im Jahr 1854 unmittelbar daneben. Im Erdgeschoss war in einem großen Raum Platz für etwa 40 Kinder. Im Obergeschoss befand sich eine Wohnung für den Lehrer und dessen Familie. Weil die Zahl der jüdischen Schüler im Ort bis zur Jahrhundertwende allerdings erheblich gesunken war, wurde die jüdische Schule schließlich mit der Ortsschule von Berkach vereinigt und das Gebäude ging in das Eigentum der bürgerlichen Gemeinde Berkachs über. Bis 1921 wurde hier noch unterrichtet. Im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte wurde das Objekt als Kommandantur der sowjetischen Armee genutzt, danach von der örtlichen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Anfang der 90er Jahre wurde es erneut verkauft, diesmal an private Eigentümer. Im Jahr 2007 erwarb der Verein Jüdisches Ensemble Berkach die ehemalige Schule. Er will sie als Teil des jüdischen Erbes des Ortes erhalten und weiterentwickeln. Langfristig ist eine Nutzung als Gästehaus geplant. Verein Jüdisches Ensemble Berkach

Freilich, sagt sie, hätte man die Fliesen auch sichtbar lassen können. Diejenigen, die hier bald einziehen sollen, würde das sicher nicht stören. Sie werden aus einem Land kommen, in dem Krieg herrscht. In dem Tag und Nacht Bomben fallen. In dem jeden Tag Menschen sterben und Häuser zerstört werden. Wer das Grauen des Krieges erlebt, dem wird es egal sein, ob der Fliesenspiegel sichtbar ist oder nicht. Hier, ganz im Süden Thüringens, nur ein paar Kilometer von der thüringisch-bayerischen Grenze entfernt, ist es sicher. Das ist es, was vor allem zählt. »Aber es soll doch auch schön aussehen, selbst wenn es schnell gehen muss«, sagt Pirnak.

Überall in diesem Haus haben sie nach dieser Maxime gearbeitet: schnell sein, um rasch helfen zu können. Und es gleichzeitig möglichst schön, möglichst behaglich, möglichst heimisch machen. Im Flur sind die Wände deshalb mit einfachen Holzplatten verkleidet, ohne Putz oder Tapete darüber. Der angenehme Duft des Materials hängt überall entlang der Treppe, die vom Erdgeschoss nach oben führt. »Das hat doch auch was«, sagt Anja Köhler.

Dieses Haus, in dem Pirnak und Köhler in den vergangenen Wochen nahezu täglich Stunde um Stunde verbracht haben, ist nicht irgendein Gebäude. In dem 350-Seelen-Ort Berkach unweit von Meiningen wird es oft die Judenschule genannt, auch wenn in ihm schon lange keine jüdischen Kinder mehr unterrichtet werden. Trotzdem ist das Gebäude Teil des jüdischen Ensembles von Berkach: ein in dieser Form wohl einzigartiges Zeugnis davon, wie Juden vor der NS-Herrschaft in Deutschland abseits der Städte auf dem Land lebten und dort über viele Jahrzehnte hinweg fester, selbstverständlicher Teil der Gesellschaft waren. Direkt neben der jüdischen Schule in Berkach steht eine Synagoge. Auch einige Wohnhäuser von einstigen jüdischen Einwohnern Berkachs sind noch erhalten.

Seit mehr als vier Wochen wird nun an der Schule geschrubbt, geschraubt und gesägt. Alles in Eigenregie ohne öffentliche Unterstützung, selbst die Baukosten werden privat finanziert. Bilder, die es vom März aus dem Inneren des Objekts gibt, lassen erahnen, was für ein Kraftakt das für all jene ist, die dabei helfen, das Haus herzurichten. Die Fotos zeigen ein zuletzt leer stehendes und verwahrlostes Gebäude. Die Küche verdreckt, der Putz an den Wänden abbröckelnd, Lichtschalter kaputt, Heizungsrohre teilweise demontiert.

Etwa 20 Menschen aus Berkach, sagen Pirnak und Köhler, hätten sich inzwischen der Idee verschrieben, aus dieser ehemaligen jüdischen Bildungsstätte einen Zufluchtsort für ukrainische Geflüchtete zu schaffen. Entstanden ist diese Idee auf einem »Mädelsabend«, erzählt Köhler, den die zwei Frauen regelmäßig donnerstags mit einigen anderen Damen im Ort abhalten. Unabhängig voneinander hätten mehrere der Frauen gesagt, noch nicht genug getan zu haben, um denjenigen zu helfen, die vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fliehen. »Man hat mal Geld gespendet oder Klamotten«, meint die 42-Jährige. »Aber wir hatten das Gefühl, wir müssten noch mehr machen.«

Zunächst planten sie deshalb, ukrainische Kriegsflüchtlinge im Kulturhaus des Dorfes unterzubringen. Das aber stieß bei den Gemeindevertretern nicht auf viel Zustimmung. Nicht, weil sie nicht auch helfen wollten, sondern weil das Kulturhaus als dauerhafte Unterkunft nicht geeignet ist, dort fehlen nämlich Toiletten und Duschen. »Wir waren ganz schön genickt, als wir das gehört haben«, sagt Pirnak. Als das Vorhaben stockte, habe ihr Mann viel von dem Frust abbekommen, erzählt Köhler.

Dann aber schlug Dominik Piede vor, die ehemalige jüdische Schule für die Unterbringung der Geflüchteten zu nutzen, erzählen Pirnak und Köhler. Der 42-Jährige wohnt gleich gegenüber der Schule und hat in den vergangenen Wochen ebenfalls viele Stunden im Haus verbracht, unter anderem, um Möbel zu tragen oder aufzubauen.

Nur Stunden nach dem Vorschlag von Piede telefonierte Köhler mit Tomas Meier, dem Vorstand des Vereins »Jüdisches Ensemble Berkach«, dem das Haus gehört. Ziel des Vereins ist es, die umfangreichen Zeugnisse des jüdischen Lebens im Ort bekannter zu machen, an sie zu erinnern und den Gebäuden wieder Leben einzuhauchen. Lange einreden musste Köhler nicht auf Meier, dann war auch er überzeugt von der Idee, aus der Schule einen Zufluchtsort für Menschen aus der Ukraine zu machen. Auch die jüdische Geschichte ist schließlich eine voller Erfahrungen von Leid und Tod, Vertreibung und Flucht. »Das i‑Tüpfelchen für uns wäre es natürlich, wenn hier bald jüdische Geflüchtete aus der Ukraine einziehen würden«, sagt Meier. »Aber natürlich sind auch alle anderen herzlich willkommen.« Schließlich seien alle Menschen gleich viel wert. Für mindestens anderthalb Jahre stellt der Verein das Haus als Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung.

Zwar ist derzeit noch nicht klar, wann die ersten Kriegsflüchtlinge in die einstige jüdische Schule einziehen. Vielleicht wird das noch im Mai sein. Doch schon jetzt und unabhängig von einem Bezug von Geflüchteten ist die Sanierung des Gebäudes zu einem Projekt geworden, das vieles bewegt hat im Ort. Durch die Bauarbeiten sind nämlich die Menschen in Berkach und der Region näher zusammenrückt. Viele der Möbel und Gerätschaften, die schon im Haus stehen, sind durch Spenden zusammengekommen. Wie etwa ein Fernseher, der in einem der beiden großen Zimmer im Obergeschoss steht. Vor allem aber haben die engagierten Berkacher mit dem Schrauben, Bohren, Stecken und Putzen ein neues Dorfprojekt gefunden. Die Arbeit hat zusammengeschweißt. »Das hat der Gemeinschaft wirklich gutgetan«, sagt Köhler. »Nach zwei Jahren Corona-Epidemie war es mal wieder Zeit«, meint Pirnak. Viele, die sich auch sonst im Ort zum Beispiel in den dortigen Vereinen einbringen, sind deshalb nun wieder mit dabei.

Die Bauarbeiten seien auch für den Verein, der das jüdische Erbe im Ort bewahren möchte, zu einer Brücke geworden, sagt Tomas Meier. Es gebe jetzt engere Verbindungen zwischen dem Dorf und dem Verein. Tatsächlich nämlich, sagt Meier, habe es in der Vergangenheit nur wenig Kontakt zwischen dem Verein und den Einwohnern Berkachs gegeben. Die Vereinsmitglieder lieben zwar das jüdische Ensemble, aber sie leben teilweise viele Kilometer von Berkach entfernt. Meier in Tonndorf in der Nähe von Erfurt. Andere Vereinsmitglieder sind in Weimar zu Hause, in Meiningen oder in Frankfurt am Main. Nun aber, sagt Meier, »verbindet uns die Hilfe für ukrainische Flüchtlinge«. Er hofft, dass das geschaffene Band zwischen dem Dorf und dem Verein anhält – und dass die Berkacher das jüdische Erbe ihres Dorfes noch einmal neu und vielleicht auch anders entdecken. Die Chancen scheinen nicht schlecht zu sein. Köhler jedenfalls will bald Mitglied des Vereins werden.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Idee, ukrainische Geflüchtete in der ehemaligen jüdischen Schule aufzunehmen, nicht bei allen Berkachern auf ungeteilte Zustimmung stößt. Die Aufnahme von Migranten ist wohl nirgendwo gänzlich unumstritten, gerade im Osten Deutschlands nicht, wo die AfD viel Zuspruch erfährt. Nicht einmal jetzt, da es vor allem Frauen und Kinder sind, die vor Tod und Zerstörung, vor Leid und Gefahr Schutz suchen.

Doch jene, die gerade die Schule renovieren, wollen sich von den ablehnenden Stimmen im Dorf nicht beirren lassen. Schon alleine deshalb nicht, weil sie sich von Anfang an ganz genau überlegt haben, wie die Geflüchteten zum Einkaufen kommen sollen. Weil sie bereits mit einer nahen Schule Kontakt aufgenommen haben, um für die ukrainischen Kinder nach Plätzen zu fragen. Weil sie für Notfallkarten mit wichtigen Telefonnummern vorbereitet haben. Alles haben sie durchdacht. Und von dem Gegenwind im Dorf lassen sie sich nicht abhalten. »Es gibt überall ein paar Böse«, sagt Piede. »Aber das sind Leute, die sowie gegen alles sind.« Pirnak schiebt nach: »Und wir sind mehr.«

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