• Berlin
  • Rias-Bericht für 2021

Grundrauschen des Antisemitismus

In Berlin haben antisemitisch motivierte Übergriffe erneut zugenommen. Verschwörungstheorien rund um Corona dienen als Brandbeschleuniger

  • Patrick Volknant
  • Lesedauer: 4 Min.

Erst bei Reinigungsarbeiten war das kleine Loch in einem der Fenster aufgefallen. Wie sich im August vergangenen Jahres jedoch herausstellen sollte, stammte es von einem Gewehr oder einer Pistole. Auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin-Mitte war geschossen worden.

Nach wie vor kommt es in der deutschen Hauptstadt zu antisemitischen Vorfällen, nicht immer bleiben dabei alle unverletzt. Neueste Zahlen der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) zeigen, dass die Tendenz nach oben geht: Insgesamt 1052 antisemitische Vorfälle hat die Organisation für das Jahr 2021 registriert, darunter 22 körperliche Angriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen und 28 Bedrohungen. Im Jahr 2020 lag der Wert noch bei 1019, für 2019 wurden 886 Fälle aufgenommen.

Benjamin Steinitz, Projektleiter von Rias in Berlin, spricht bei der Vorstellung der Zahlen am Dienstag von einem »antisemitischen Grundrauschen«, das sich seit Jahren in der Hauptstadt breitmacht. »Unsere bereits im Jahr 2020 formulierte Befürchtung, dass der Antisemitisimus eine öffentliche Normalisierung erlebt, ist leider eingetreten.« Gerade im Kontext der Corona-Pandemie habe sich die Erscheinungsform des Post-Shoa-Antisemitismus als politisch sinnstiftend erwiesen.

»Erst machen sich Verschwörungserzählungen breit, nach denen Personen, meist Juden, dafür verantwortlich wären. Dann machten sich die Verschwörungserzähler daran, sich selbst mit den Opfern der Shoa gleichzusetzen«, sagt auch Anetta Kahane, Gründerin der Amadeu-Antonio-Stiftung. Entsprechende Erzählmuster seien während der Pandemie zu einer Art »Volkssport« geworden. Der Antisemitismus, so Kahane, fungiere als Kulturtechnik, derer sich Menschen bedienen, um für alles einen Schuldigen zu finden.

Für 2021 ist es besonders der Mai, der aus den Zahlen der Rias hervorsticht. Mit 225 antisemitischen Vorfällen macht der Monat rund 21 Prozent aller Vorfälle des Jahres aus. Es handelt sich um einen traurigen Rekord: Noch nie hat die Organisation seit Projektbeginn im Jahr 2015 so viele Fälle in einem Monat feststellen müssen.

Im Mai war es erneut zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Terrororganisationen und dem Staat Israel gekommen. In Berlin fanden zu dieser Zeit mehrere Kundgebungen und Demonstrationen mit teilweise antisemitischen Parolen statt.

Auch was lebensgefährdende Übergriffe in Berlin angeht, muss die Rias für 2021 die höchste Zahl seit der eigenen Gründung feststellen. Vorfälle im Zusammenhang mit physischer Gewalt wurden in allen Berliner Bezirken, ausgenommen Reinickendorf, registriert – die meisten von ihnen in Neukölln, gefolgt von Charlottenburg-Wilmersdorf, Tempelhof-Schöneberg und Lichtenberg.

Sigmount Königsberg, Beauftragter gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde in Berlin, zeigt sich über das Ausmaß der Gewalt entsetzt – wie auch über die hohe Zahl der Übergriffe insgesamt: »Das sind mindestens drei antisemitische Vorfälle am Tag. Ja: Mindestens. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass es noch ein großes Dunkelfeld gibt.«

Anders als in vorangegangenen Berichten musste Rias in diesem Jahr auf den Vergleich mit internen Datensätzen der Polizei Berlin verzichten. Die Behörde verweigerte die Herausgabe näherer Informationen zu den 2021 erfassten antisemitischen Straftaten. Königsberg ist darüber mehr als enttäuscht: »Durch diese Sperre lässt sich kein kohärentes Bild antisemitischer Vorfälle darstellen.« Die Maßnahme wirke in erster Linie zum Schutz der Täterinnen und Täter.

»Das Verhalten der Polizei wird bei Berliner Jüdinnen und Juden weitere Irritationen hervorrufen«, sagt auch Benjamin Steinitz von Rias. Schon jetzt erreichten die Organisation immer wieder Mitteilungen, dass das Vertrauen in die Behörden schwinde: »Berlin riskiert so, seine Vorreiterrolle im Kampf gegen den Antisemitismus einzubüßen. Für mich ist das eine bedauerliche Entwicklung.«

Kritik an der Entscheidung kommt auch aus der Berliner Opposition. »Die sehr umfassende Recherchearbeit darf nicht aus Datenschutzgründen ausgebremst werden«, sagt Cornelia Seibeld, Sprecherin für Antisemitismusbekämpfung der CDU-Fraktion am Dienstag. »Es ist unumgänglich, dass der Senat jetzt handelt und eine datenschutzrechtlich passende Grundlage schafft.«

Bei der Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichtes für das Jahr 2021 betont derweil Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD): »Wir wissen von der Gefahr, die auch von Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden ausgehen kann.« Jeder einzelne Verdachtsfall sei einer zu viel und schädige den Ruf der Polizei. Der Bericht befasst sich insbesondere mit der während der seit Pandemiebeginn wachsenden Gefahr für Journalistinnen und Journalisten. Auf sie sollen im Jahr 2021 so viele Attacken registriert worden sein wie noch nie zuvor. Genaue Zahlen nennt der Verfassungsschutz allerdings nicht.

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