Ehrenrettung für einen Verkannten

Eine Jahrhundertschau: Schliemanns Welten und Entdeckungen auf der Berliner Museumsinsel

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Jahrhundertausstellung: "Schliemanns Welten" im Neuen Museum Berlin
Eine Jahrhundertausstellung: "Schliemanns Welten" im Neuen Museum Berlin

Der Mann, der aus dem Nichts kam. Mit diesem Satz könnte jedes Porträt über Heinrich Schliemann beginnen, auch wenn seine Memoiren selbst anderes vermuten lassen. Aber wie schon Dmitrij Jegorow in seiner 1923 in Petersburg erschienenen ersten wissenschaftlichen Schliemann-Biografie erkannt hatte, ist eine inszenierte Selbstbiografie der Feind jeder Biografie. Diesem Umstand hat jeder Rechnung zu tragen, der sich mit dem Troja-Ausgräber auf die eine oder andere Weise befasst.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Geboren 1822 in Neubukow, wuchs er in Ankershagen in einer zerrütteten Familie auf. Sozial stigmatisiert, die gymnasiale Schulbildung aus Geldmangel abgebrochen und in die Realschule rückverwiesen, absolvierte er eine ungeliebte Kaufmannslehre, machte sich dann 1841 auf den Weg nach Hamburg und heuerte dort, 19-jährig, als Schiffsjunge auf der Zweimast-Brigg »Dorothea« an. Er wollte den für ihn schwierigen mecklenburgischen Mikrokosmos hinter sich lassen und nach Venezuela auswandern, um dort sein Glück zu suchen. Vor der niederländischen Küste erlitt der Segler jedoch Schiffbruch; Schliemann überlebte. Zurück in die Heimat wollte er nicht. Er ging – fast mittellos – nach Amsterdam, wo er um Arbeit und eine Festanstellung kämpfen musste. Er begann als Briefbote in einem Amsterdamer Handelskontor.

In dieser schwierigen Lebenslage offenbarte sich ein typischer Charakterzug Schliemanns: niemals aufzugeben, Schicksalsschläge zum Guten zu wenden und aus der Not eine Tugend zu machen, ebenso schnell auf sich jäh verändernde Lebenslagen zu reagieren und sich eröffnende Entfaltungsmöglichkeiten rigoros zu nutzen. Hinzu kamen Hartnäckigkeit bei der Verfolgung selbst gesetzter Ziele und das Glück des Tüchtigen.

Schliemann begriff sofort, dass er, wenn er beruflich vorankommen wollte, Sprachen lernen musste: zuerst Niederländisch, Englisch und Französisch sowie obendrein – eine seiner persönlichen Sternstunden – Russisch. Diese Sprache war es, die ihm den Weg in das große russische Reich und die Welt ebnete, die zur Quelle seines Reichtums wurde und ihm letztlich – noch sollte es Jahrzehnte dauern – das Tor nach Troja aufzustoßen half.

Mit Schliemanns Jahren von 1822 bis 1869, mehr als die Hälfte seines Lebens, befasst sich der erste Teil der Ausstellung in der James-Simon-Galerie. Das erste Exponat, Jerrers »Weltgeschichte für Kinder«, die Schliemann laut seiner Autobiografie 1829 zu Weihnachten bekommen haben will, soll angeblich sein bleibendes Interesse für Troja geweckt haben. Man könnte nun meinen, dass die Berliner Ausstellung dem noch in vielen Köpfen festsitzenden Schliemann’schen »Traum von Troja« huldige. Zum Glück ist dem nicht so. Dieser Mythos ist von der Forschung längst widerlegt.

Schautafeln informieren sodann in Wort und Bild über die einzelnen Stationen von Schliemanns Weg in die Welt, ergänzt durch zahlreiche, meist einzigartige originale Sachzeugnisse. Auf Kindheit und Jugend folgen Amsterdam und Russland. Die russische Episode veranschaulichen ein Jagdschlitten, ein Pelz und diverse andere Kleidungsstücke. Weit wichtiger als diese Objekte sind die gezeigten Proben der Materialien, mit denen Schliemann handelte und wirtschaftlichen Erfolg erzielte: natürliche Farbstoffe wie Indigo, das Schliemann in höchster Qualität auf russischen Märkten anbot, sowie Rohstoffe, Schwefel, Salpeter und Blei, die er während des Krimkrieges 1853 bis 1856 an das russische Artilleriedepartement verkaufte, wodurch er seinen Reichtum mehr als verdoppeln konnte. Über seine Petersburger Familie wird nur das Allernötigste mitgeteilt. 1852 hatte er die aus gutbürgerlichem Hause stammende Jekaterina Lyshina geheiratet, eine Frau, die ihm geistig überlegen war, mit der er drei Kinder hatte und die er sehr schlecht behandelte. Beide lebten sich mehr und mehr auseinander, und so wurde die Ehe auf Betreiben Schliemanns 1869 in den USA geschieden. Eine Scheidung, die in Russland nie anerkannt wurde. Dort galt er daher nach seiner Ehelichung mit Sofia Engastroménou im gleichen Jahr in Athen als Bigamist.

Noch vor der Heirat mit Jekaterina reiste Schliemann 1851/52 nach Kalifornien, wo er kurzzeitig ein Bankhaus zum Ankauf von Gold gründete, sehr zu seinem Vorteil. Reisen wurden für ihn zu einem geradezu zwanghaften Bedürfnis, einerseits, um der familiären Misere zu entfliehen, andererseits der Bildung und des Vergnügens wegen: 1858/59 Schweden, Dänemark, Italien, anschließend Ägypten, Palästina, Syrien, 1864 die Weltreise unter anderem nach Indien, China, Japan, Nord- und Mittelamerika. 1866 plante er eine Reise nach Persien, die aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden musste. Erst 1868 besuchte er Griechenland und Kleinasien. Den Aufenthalt in China illustrieren das erstmals gezeigte historische Modell einer Begräbniszeremonie, der Mandarinhut eines Beamten, ein seidener Kimono und ein Straßenschubkarren. Für Japan sind es Lackdosen, eine Mini-Teeküche und ein Sandalenpaar aus Holz. Bei der Beschaffung der extraordinären Ausstellungsstücke erwies sich das nicht genug zu lobende, enge nationale und internationale Zusammenwirken verschiedenster Museen, trotz politischer Unstimmigkeiten auf internationaler Bühne.

Der zweite Teil im Neuen Museum zeigt viel Spektakuläres, räumt aber vor allem mit Vorurteilen auf, mit denen der Name Schliemanns behaftet war und es teilweise immer noch ist: Er sei ein Goldgräber, ein Schatzsucher, ein archäologischer Sündenfall gewesen, ein notorischer Lügner und Fälscher. Nur auf zwei dieser Vorwürfe kann hier eingegangen werden. Natürlich gab es die sensationellen Goldfunde in Troja und in den mykenischen Schachtgräbern, und Schliemann war überglücklich darüber, machten sie seinen Namen doch weltberühmt. Aber nicht ihretwegen nahm er den Spaten in die Hand. Die »Ilias«, an deren Wahrheitsgehalt er fest glaubte, war ihm der Wegweiser bei seiner archäologischen Suche. Homers Welt wollte er entdecken und entdeckte doch weit mehr, denn er holte eine bis dahin unbekannte archäologische Epoche ans Licht: die ägäische Bronzezeit, die früheste europäische Hochkultur, die nichts mit Homers Epen zu tun hatte. Wer den archäologischen Teil der Ausstellung durchschreitet, wird die vielen tönernen Exponate sehen, denen – vom einfachen Spinnwirtel bis zu kunstvoller Keramik – das besondere Augenmerk Schliemanns galt. Sie waren unmittelbare Zeugen einer bemerkenswerten Alltagskultur und damit Ausgangspunkte für weitergehende soziologisch-kulturhistorische Schlussfolgerungen und topografische Beobachtungen.

Schliemann wurde außerdem unterstellt, dass er aus einer Goldgräbermentalität heraus rücksichtslos archäologische Bodenschichten zerstört habe. Gemeint ist der Suchgraben, den Schliemann quer durch den Hügel des vermuteten Troja zog. Vergessen wird dabei, dass damals die antike Feldarchäologie als Wissenschaft noch in den Anfängen steckte. Sie erlebte aber gerade durch den immer professioneller arbeitenden, stetig lernenden Schliemann einen starken Entwicklungsschub, zumindest in zweierlei Hinsicht: Er erkannte in der Keramik das Leitfossil für eine relative und absolute Chronologie. Der Suchgraben, den man in der Ausstellung visuell durchschreiten kann, öffnete ihm zudem die Augen für die Bedeutung der Stratigrafie, für die Abfolge der einzelnen archäologischen Kulturschichten und deren zeitliche Bestimmung.

Nicht versäumen sollte der Besucher zwei Höhepunkte der Ausstellung. Zum einen die köstliche Darstellung Schliemanns durch die Schauspielerin Katherina Thalbach, als dieser das Auffinden und die Bergung des sogenannten »Schatzes des Priamos« nacherzählt. Ein letzter Höhepunkt findet sich in der Nachbildung des »Iliou Melathrons«, jenes palastähnlichen Wohnhauses, das sich Schliemann 1880 in Athen erbauen ließ. In ihm befindet sich heute – zweckentfremdet – das Numismatische Museum. Gezeigt wird – eine Sensation – Schliemanns Arbeitszimmer, das nach der Auflösung seines Haushaltes in private Hände gelangte und in das »Iliou Melathron« nie mehr zurückkehrte, trotz eifriger Bemühungen des Athener Prähistorikers und Schliemannforschers Georgios Korrés. Es gleicht einem Wunder, dass es nun in Berlin ausgestellt werden konnte. Der Besucher sollte den Anblick still genießen. Nochmals wird er Schliemanns Arbeitszimmer nicht zu sehen bekommen.

Fazit: Was auf der Berliner Museumsinsel zu Leben und Werk Schliemanns offeriert wird, ist eine grandiose Jahrhundertausstellung. Eine Exposition von diesem Ausmaß und in dieser Form wird es in absehbarer Zeit nicht wieder geben.

Ausstellung vom 13. Mai bis 6. November, Museumsinsel Berlin, James-Simon-Galerie & Neues Museum, Di bis So 10–18 Uhr, Eintritt 14 €, Begleitband 36 €.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal