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Kein Schicksalsschlag

Was hat die Pandemie mit der Globalisierung und mit Sigmund Freud zu tun? Das erklärt Uli Krug in »Krankheit als Kränkung«

  • Larissa Kunert
  • Lesedauer: 5 Min.

Sneakers und Autoteile aus China, Kaffee aus dem Kongo und Bananen aus Ecuador – Produkte, die wir in Deutschland erwerben und konsumieren, kommen aus aller Welt. Oft werden sie in den Exportländern von schlecht entlohnten Arbeitskräften abgebaut und gefertigt. Dass diese globalen Arbeitsverhältnisse entscheidenden Anteil sowohl an der Covid-19-Pandemie als auch am Phänomen der Impfgegnerschaft haben, ist die These des Soziologen und Journalisten Uli Krug in seinem Buch »Krankheit als Kränkung«, das im April im Verlag Edition Tiamat erschienen ist.

Zunächst nimmt Krug das subsaharische Afrika in den Blick. Dass dort sowohl die Aids- als auch die Ebola-Epidemie ihren Anfang nahmen, sei kein Zufall, sondern Folge der zunächst durch Kolonisierung und später durch sogenannte von der Weltbank und dem IWF finanzierte Strukturförderprogramme geschaffenen sozioökonomischen Bedingungen, die das Leben der Menschen vor Ort drastisch veränderten. So seien große Teile der Bevölkerung in West- und Zentralafrika durch die neue Exportorientierung ab den 1970er Jahren pauperisiert worden und deshalb vom Land in die Städte geflohen. Aus Hunger hätten sich die Menschen vermehrt von Wildtierfleisch ernährt – so hätten sowohl das HI-Virus als auch das Ebolavirus den Sprung über die Artengrenze geschafft. Katastrophale hygienische Zustände in den Slums der Städte hätten zur Verbreitung der Seuchen beigetragen.

Ähnlich sehe es auch in anderen Teilen der Welt aus, etwa in China und Hongkong. Die Entstehung von Fertigungsindustrien für globale Wertschöpfungsketten in den letzten Jahrzehnten hätte dazu geführt, dass sich Wanderarbeiterinnen und -arbeiter in riesigen Slums ansiedelten. Historisch-strukturell glichen diese Zustände denen der beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert, so Krug. Auch die hier lebenden Menschen seien oft auf Wildtierfleisch angewiesen, das billiger sei als produziertes Fleisch. Die sogenannten wet markets für Fleisch und Fisch aller Art schafften ideale Bedingungen für Zoonosen, die höchstwahrscheinlich die Ausgangspunkte für Sars und auch die Covid-19-Pandemie bildeten. Krug räumt hier argumentativ überzeugend mit der »Laborthese« auf, nach der das Covid-19-Virus in einem Labor entstanden sei. Stattdessen seien die »neuen Epidemien«, die um die Jahrtausendwende entstanden, direkte Folgen des liberalisierten Weltmarkts.

Im zweiten Teil seines Essays beschäftigt sich der Autor mit der gesellschaftlichen Charakterbildung in postindustriellen Staaten, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Ausgangspunkt ist ein Krug zufolge »durch und durch absurder« Zustand: Während sich Schwellenländer um den Zugang zur Massenproduktion von Impfstoffen bemühten, kämpften teils große und zur Militanz neigende Milieus in wohlhabenderen Ländern dagegen, sich impfen zu lassen. Auch dieses Phänomen führt der Autor zumindest teilweise auf die neue Internationale Arbeitsteilung zurück. Seit den 1970er Jahren sei die Bevölkerung in den heute postindustriellen Staaten in Europa und Nordamerika zu großen Teilen von der Warenproduktion abgekoppelt worden. Die Folge sei eine fortschreitende Verkennung der Wirklichkeit: Grundlegende Zusammenhänge wie der zwischen Produktion und Produkt oder der zwischen gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichem Reichtum verlören ihre Evidenz.

Diese an Karl Marx’ Kritik der politischen Ökonomie angelehnten Thesen verbindet der Autor nun mit dem von Sigmund Freud entwickelten Begriff des Narzissmus, um das Verhalten der Impfgegner zu erklären. Die Psychoanalyse nach Freud bestimme, wie Krug schreibt, alle Kleinkinder als zunächst narzisstisch, also an die eigene Allmacht glaubend. Erst nach und nach lernten sie, Objekte und andere Menschen als von sich getrennt wahrzunehmen – was nur durch eine Kränkung des Selbst zu haben sei.

Infektionskrankheiten legten nun, so Krug, einen gesellschaftlich virulenten sogenannten Sekundären Narzissmus offen, der durch die Entfernung der postindustriellen Gesellschaften von den Produktionsprozessen befördert worden sei. Dieser sei von Wunschdenken bestimmt. Der erwachsene Narzisst, der sich unbesiegbar wähne, wehre ihn potenziell kränkende Erkenntnisse der Naturwissenschaften ab – im Fall der Covid-19-Pandemie also zum Beispiel virologische Befunde. Auch gehe diese Form des Narzissmus mit einer Neigung zu Verschwörungstheorien einher, denn in der Abwehr der Kränkung würden kindliche Muster von Verfolgungsangst und -lust wieder ins Bewusstsein gespült.

Darüber hinaus führt Krug allerdings auch drei Mentalitätsströmungen an, die die Impfskepsis speziell in Deutschland beförderten: eine traditionelle Neigung zur Wissenschafts- und Staatsfeindschaft in den Mitteleuropäischen Gebirgsregionen, den Pietismus als Wegbereiter moderner Esoterik in Baden-Württemberg sowie eine Mischung aus preußischem Männlichkeitsbild und »postsozialistischer Verrohung« in den neuen Bundesländern.

Nicht nur auf Freud und Marx stützt sich der Autor, sondern zieht neben weiteren Theoriegrößen wie Georg Lukács und Hannah Arendt auch zeitgenössische Autoren wie den Journalisten und Schriftsteller Daniel Schulz sowie den Soziologen Mike Davis heran. An wenigen Stellen enthält Krugs Studie wohl bald überholte Zeitbezüge, etwa wenn von der »derzeit grassierenden, im südlichen Afrika entdeckten Omikron-Variante des Coronavirus« die Rede ist. Schlimm ist das nicht, denn die Schlüsse, die Krug aus dem pandemischen Geschehen zieht, erscheinen zutreffend auch auf lange Sicht. Zuweilen nachvollziehbar polemisch gegenüber der augenscheinlich schlechten Einrichtung der Gesellschaft ist dieser Text ein scharfsinnig argumentierter, verständlich formulierter und wissenschaftlich gut unterfütterter Essay, den es sich zu lesen lohnt.

Uli Krug: Krankheit als Kränkung. Narzissmus und Ignoranz in pandemischen Zeiten. Edition Tiamat, 112 S., brosch., 16 €.

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